Es war schon länger absehbar, dass ich diesen Kommentar schreiben werde. Jetzt ist es so weit, denn in rechtsextremen Kreisen wird derzeit zu Protesten gegen eine Drag-Lesung für Kinder in Oerlikon aufgerufen.
Ich habe noch nie verstanden, weshalb Menschen andere aufgrund ihrer Sexualität diskriminieren. Nach all den Errungenschaften der letzten Jahre scheint es nun weltweit wieder im Trend zu sein, mit Verboten gegen die Gemeinschaft der LGBTQ+ vorzugehen.
Verheerend sind die neusten Entwicklungen in Afrika. In über 30 Ländern des Kontinents drohen Homosexuellen Haftstrafen, in Somalia wie bald in Uganda sogar die Todesstrafe (!).
Aber auch in den USA, dem selbst ernannten «Land der Freiheit», wurden dieses Jahr 492 Anti-Trans-Gesetze eingereicht. Die meisten sollen Drag-Shows verbieten. Drag ist – zusammen mit der «Woke»-Debatte – das neue Feindbild des konservativen Amerikas. Vor allem, wenn es um Kinder geht.
In Amerika werden Drag-Shows als grössere Gefahr für Kinder angesehen als Waffen – bei den Konservativen. Eigentlich müsste dieser Umstand allen Politikerinnen und Politikern die Augen öffnen, wer in der «Woke»-Debatte wirklich gefährlich ist. Es sind diejenigen, die auf Gleichstellung mit «Woke-Wahnsinn» antworten und unter diesem Deckmantel neue Verbote einführen wollen.
Die USA sind damit nicht alleine. Anstatt dass in Europa realisiert wird, was in Amerika falsch läuft, bahnt sich auch hier dieselbe Politik an, die diskriminierende Gesetze für LGBTQ+ fordert. Und damit den Weg ebnet für neuen Hass.
Exemplarisch stehen dafür die neusten Entwicklungen in Deutschland. Aktuell wird eine geplante Drag-Lesung für Kinder in München hitzig diskutiert.
Obwohl der Anlass nicht zum ersten Mal stattfinden soll, hat sich jetzt die Politik eingeschaltet. Parteien von links bis rechts äussern ihren Unmut, die CSU forderte gar ein staatliches «Drag-Verbot». Auch die ehemalige CDU-Bundesministerin für Familie und Jugend, Kristina Schröder, sagte dazu zur «Bild»: «Ich muss an die 80er-Jahre denken, als es Versuche gab, Pädophilie zu verharmlosen, das Tabu als verklemmt darzustellen. Ein grauenvoller Irrweg! Und wieder tragen wir Erwachsene unsere Sexualität an Kinder heran.»
Diese Aussage muss man erst einmal sacken lassen. Doch welche Argumente haben die Kritiker sonst?
Der schärfste Vorwurf dreht sich darum, dass mit Drag-Lesungen für Kinder «queere Identitätspolitik» betrieben werde. Begründet wird dies von Politikern und gewissen Medien damit, dass die Veranstalter auf ihrer Website schreiben, Kinder in farbenfrohe Welten mitnehmen zu wollen, «die unabhängig vom Geschlecht zeigen, was das Leben für euch bereithält».
Konkret werden etwa Geschichten von «Jungs in Kleidern und Prinzessinnen mit ihrem eigenen Willen» vorgelesen. Laut der Kritiker werde dadurch die «Zweigeschlechtlichkeit infrage gestellt oder aufgelöst». Die «NZZ» schrieb gar, dass dies Kindeswohlgefährdung darstelle, auch weil durch kindliche Geschichten das Geschlecht in den Mittelpunkt gerückt werde.
Doch drehen wir den Spiess um: Nach dieser Logik müsste man fairerweise auch sagen, dass durch Geschichten über Beziehungen zwischen Mann und Frau ebenfalls das Geschlecht in den Mittelpunkt gerückt und eine bestimmte «Sexualität an die Kinder herangetragen» wird – nämlich die Heterosexualität. Es ist eine verquere Vorstellung, dass Kinder ihre eigene Sexualität hinterfragen, sobald sie einer Dragqueen über den Weg laufen. Dasselbe passiert auch nicht, wenn sie einem heteronormativen Mann begegnen.
Wissenschaftliche Studien, die den Vorwurf der Kritiker untermauern, gibt es keine, wie mir mehrere forschende Kinderpsychologen auf Nachfrage bestätigen. Sie alle verdeutlichen, dass Drag-Shows die Kinder nicht dazu verleiten würden, selbst so werden zu wollen. Dasselbe gilt bei Kontakten mit Homosexuellen – Kinder werden dadurch nicht schwul oder lesbisch. Man wird nicht homosexuell, man ist es – oder man ist es nicht.
Eine Drag-Lesung für Kinder hat also nichts mit aktivistischer Sexualpädagogik zu tun, sondern mit Inklusion. Geschichten über Mädchen in Männerkleidung regen die Fantasie der Kinder an – wie es auch Märchen machen, die von Wölfen handeln, die sich als Grossmutter verkleiden. Nur weil ein Junge einen Rock tragen will, ist er noch lange keine Dragqueen.
Drag-Lesungen können helfen, Vorurteile und Stereotypen abzubauen, indem die Vielfalt der Menschen in den Mittelpunkt gestellt wird. Das ist ein guter Ansatz.
Abstrus ist nicht zuletzt der Vorwurf, die meist vulgären Namen der Drag-Darsteller würden Kinder sexualisieren. In München heisst der Dragking etwa «Eric Big Clit» (Eric grosse Klitoris).
Doch Kinder können das abstrahieren, versicherten mir auch die Kinderpsychologen. Und sollten sie die Eltern dennoch fragen, was «Big Clit» bedeutet, können Eltern immer noch selbst entscheiden, wie explizit ihre Antwort ausfällt.
Viele würden sich wahrscheinlich dafür entscheiden, den Kindern zu erklären, was das weibliche Geschlecht ist und wofür eine Klitoris steht. Schliesslich gehört die Klitoris genauso zum Körper einer Frau wie ihre Augen oder ihre Nippel, und die werden auch nicht tabuisiert, wenn das Kind danach fragt. Sexualisiert werden diese Begriffe und Drag-Shows also nicht von den Kindern, sondern von den Erwachsenen.
Wer nun ein Drag-Verbot fordert, macht das nicht für die Kinder. Sondern für die eigene verquere Weltanschauung. Doch man sollte dabei bedenken, dass Diskriminierung Hass erzeugt. Deshalb wird sich ein Schuss gegen Drag-Lesungen als Eigentor herausstellen.
Vorlesungen über zb. die Natur, Berufe oder das Internet würden mehr betreffen und hätten so einen grösseren Nutzen.