Wie wichtig ist ein Zuhause für einen Menschen?
Rahel Bachem: Das Zuhause ist ein Ort, wo man sich zurückziehen kann und sich sicher fühlt. Man kann sich entspannen und Kraft tanken. Hier hat man die Kontrolle, anders als in der Welt draussen mit vielen Unsicherheitsfaktoren. Das hat auch meine Forschung über Menschen gezeigt, bei denen eingebrochen wurde.
Ein Einbruch geschieht unerwartet, der Bergsturz kam zumindest kurzfristig angekündigt. Spielt das eine Rolle?
Die Bedeutung des Zuhauses bleibt gleich. Und beim Bergsturz in Blatten kommt hinzu, dass nicht nur ein paar Wertsachen weg sind, sondern alles, das ganze Haus mit vielen Gegenständen mit emotionalem Wert. Ausserdem wird ein Haus gerade in ländlichen Regionen oft von Generation zu Generation weiter vererbt. Vielleicht wuchs da schon die eigene Grossmutter und Mutter darin auf. Da verliert man einen Teil des Sicherheitsgefühls, aber eben auch einen Teil der eigenen Identität.
Zügeln, sein Haus verlassen und andernorts Wurzeln schlagen, das machen viele. Was ist hier anders?
Man zieht nicht von heute auf morgen weg. Auch wer freiwillig zügelt, macht einen Ablösungsprozess durch. Man wägt die Vor- und Nachteile ab, entscheidet selber und nimmt dann vieles von dem mit, was einem teuer und lieb ist. Mit diesem Bergsturz fehlt dieser Ablösungsprozess und die Betroffenen befinden sich nun in einem Trauerprozess. Es lag nicht in der eigenen Hand, man hat die Kontrolle total verloren.
Gibt es neben dem Gefühl von Kontrollverlust noch andere Gefühle?
Ja, solche Erfahrungen gehen tief: Sie verändern, wie man die Welt sieht in Bezug auf Sicherheit, Kontrolle und Vorhersehbarkeit. Wir Menschen gehen in der Regel mit einer gewissen Naivität durchs Leben, die gesund ist. Wenn wir das Haus verlassen, gehen wir davon aus, dass uns nichts passiert, auch wenn man die Gefahren kennt. Man geht davon aus, dass es anderen passiert, nicht einem selbst. Wenn wir diese Einstellung nicht hätten, dann wären wir ein Bündel aus Angst und würden nichts mehr wagen. Wenn der Worst Case doch passiert, erschüttert das die Annahme, dass sich die Dinge tendenziell zu meinen Gunsten entwickeln oder andere Menschen einem gut gesinnt sind. Der Bergsturz stellt zwar nicht das Vertrauen in die Menschen infrage, aber in die Kontrollierbarkeit der Sicherheit.
Man kann das also nicht abstrahieren und sich sagen, das war ein Einzelereignis und das Leben ist so sicher wie davor?
Manche können das, manche nicht. Es gibt Menschen, die können sich sagen: «Das war ein Zufall, so schnell wird mir nichts mehr passieren.» Anderen gelingt das nicht. Da spielt es eine Rolle, was eine Person zuvor schon alles erlebt hat: Ob die Person schon Traumata oder andere Verluste erlebt hat. Einige haben die Ressourcen, um damit umzugehen, für andere ist es eine weitere Bestätigung, dass sie nicht sicher sind. Dazu kommt der finanzielle Stress, denn die Versicherungen bezahlen nie alles. Das macht verletzlich.
Welche Lebenseinstellung kann helfen?
Es hilft das Wissen darum, dass zum Leben sowohl das Positive wie auch das Negative gehört. Beide Formen von Ereignissen kommen vor. Das hilft, das Schlimme zu akzeptieren. Und es hilft, dass man in der Wahrnehmung die Balance nicht verliert.
Meinen Sie, dass man das Schöne nicht aus dem Fokus verliert?
Genau, dass das Schlimme nicht alles überschattet. Aber das sind längerfristige Prozesse. Jetzt befinden sich die Betroffenen von Blatten noch in einem Schockzustand. Der Bergsturz erscheint ihnen vielleicht gar nicht wirklich real und sie können vielleicht noch nicht akzeptieren, was passiert ist. Jetzt ist es normal, dass viele negative Gefühle da sind: Wut, Angst, Trauer oder sogar Schuldgefühle. Dass die Leute denken: «Ach, hätte ich mich doch besser vorbereitet» oder so. Das ist in der akuten Phase menschlich. Erst nach Wochen oder Monaten zeigt sich, wer mit dem Ereignis wie umgehen kann und wer vielleicht sogar eine psychische Erkrankung wie eine Depression oder eine Angststörung entwickelt.
Ist es ein schützender Faktor, dass hier eine Gemeinschaft betroffen ist und man es nicht alleine erlebt hat?
Ja, das Wir-Gefühl kann ein schützender Faktor sein. Soziale Unterstützung ist bei solch traumatischen Ereignissen ohnehin immer der absolut wichtigste Faktor. Da gibt es auch gemeinsame Prozesse, das hat eine Forschung nach dem Bergsturz in Gondo im Jahr 2000 gezeigt. Man stellte einerseits psychische Schwierigkeiten fest, aber andererseits auch posttraumatisches Wachstum.
Was bedeutet «posttraumatisches Wachstum»?
Das bedeutet, dass man aufgrund eines sehr belastenden Ereignisses, das eigentlich das Urvertrauen erschüttert, in gewissen Bereichen innerlich wächst. Also, dass die Leute sogar gestärkter sind als vor dem Ereignis. Zum Beispiel kann das im zwischenmenschlichen Bereich geschehen, wenn man merkt, wie wichtig Beziehungen sind. Auch kann sich der Fokus des Lebens verschieben oder man wird sich gewissen Stärken bewusst, weil man erlebt hat, dass man mit dem Schlimmsten umgehen kann.
Sie erforschen auch, wie Traumata je nach Kultur unterschiedlich verarbeitet werden. Was haben Sie über die Schweiz herausgefunden?
Wir haben gesehen, dass speziell in der Schweiz ein Indikator für posttraumatisches Wachstum eine erhöhte Naturverbundenheit ist: Dass man Naturphänomene plötzlich viel intensiver wahrnehmen kann, einen Regentropfen auf einem Blatt beispielsweise oder Sonnenstrahlen durch Bäume. Es bedeutet, dass man über sich hinausblickt und Verbundenheit erlebt. Diese Form von emotionaler Erdung oder spiritueller Anbindung kann gerade nach traumatischen Erlebnissen sehr stabilisierend wirken.