Herr Vögeli, kann man sagen, dass sich unsere Jahreszeiten nach hinten verschieben?
Reto Vögeli: Nein.
Weshalb nicht?
Grundsätzlich werden die Jahreszeiten vom Sonnenstand bestimmt. An der Erdumlaufbahn und der Neigung der Erdachse hat sich jedoch nichts geändert. Die Erde dreht sich nach wie vor einmal pro Tag um die eigene Achse und kreist während eines Jahres einmal um die Sonne. Deswegen haben sich auch die Jahreszeiten nicht verschoben. Der Winter ist immer noch die kälteste Jahreszeit mit am wenigsten Sonne, im Sommer haben wir am meisten Sonne, deswegen ist es am wärmsten.
Warum hat sich der Juni in diesem Jahr dann nicht wie ein Sommermonat angefühlt?
In Europa wird das Wetter hauptsächlich durch Hoch- und Tiefdruckgebiete bestimmt. Das Aprilwetter, das wir dieses Jahr bis in den Juni hinein hatten, diese unbeständigen Wetterlagen, das wurde durch Tiefdruckgebiete verursacht. Sie zogen vom Nordatlantik über die britischen Inseln bis nach Mitteleuropa. Deshalb hat es immer wieder geregnet. Hinzu kommt, dass die Luft aus dem Nordatlantik kühl ist, daher hatten wir im Juni nur 20 Grad. Das ist natürlich nicht das, was sich die Leute unter Juni vorstellen.
Dafür haben wir jetzt im August 30 Grad.
Momentan haben wir eine Lage mit ausgeprägten Hochdruckgebieten, dadurch viel Sonne und höchstens gelegentlich ein Gewitter. Allerdings kann sich das von heute auf morgen verändern. Dieses Wochenende haben wir kein Monstertief, es kommt aber wieder kühle Luft aus dem Nordatlantik, deswegen haben wir morgen Regen und 21 Grad. In der kommenden Woche erreicht uns das nächste Hoch, dann gibt's wieder Sonne und 30 Grad.
Dann täuscht auch der Eindruck, dass es im August und September vermehrt warm bis heiss ist?
Ja. Unser Wetter hat eine relativ starke Variabilität. Das heisst: Es kann in jedem Jahr anders ausfallen. Es ist nicht vergleichbar mit Ländern wie beispielsweise Algerien. Dort ist es im Sommer immer sonnig und 40 Grad heiss. Bislang ist der August drei Grad über der Norm, das ist wahnsinnig viel. Wir sind auf Kurs zum zweitwärmsten August seit Messbeginn. Es kann aber auch mal wieder einen ganzen August regnen.
Und wie steht es um den September?
Der September ist einer der stabilsten Wettermonate, ganz anders als etwa der April. Spätsommerwetter mit stabilen Hochdruckgebieten auch noch im September und Oktober ist nichts Neues. Das gab es auch in der Vergangenheit. Hinzu kommt, dass im September die Gewitter tendenziell wegfallen. Es ist dann den ganzen Tag schön und am Abend bleibt es trocken.
Die drei Grad über der Norm, die wir im August bislang haben, ist das eine Folge des Klimawandels?
Die Klimaerwärmung mit Einzelereignissen in Verbindung zu bringen, ist immer schwierig. Einen einzelnen Monat als Referenz zu nehmen und dann zu sagen, «das ist jetzt der Klimawandel», greift zu kurz. Die hohen Temperaturen im August passen aber ins Gesamtbild. Trotz Temperatureinbrüchen wird es tendenziell immer wärmer. In den letzten Jahren waren jeweils elf von zwölf Monaten zu warm.
Was heisst «zu warm»?
Wir vergleichen die aktuellen Temperaturen jeweils mit den Durchschnittstemperaturen der Jahre 1991 bis 2020. Für dieses Jahr hat sich bisher Folgendes gezeigt:
Es gab also keinen Monat, der kälter war als der Schnitt. Nur Monate, die gleich oder überdurchschnittlich warm waren. Auffallend ist der Februar. Diese 4,7 Grad plus, das ist extrem. Der Februar 2024 war kein Wintermonat mehr, sondern ein Frühlingsmonat.
Was ist mit Unwettern wie demjenigen diese Woche in Brienz? Auch sie nehmen dem Gefühl nach seit einigen Jahren zu.
Die Unwetter in der Schweiz müsste man ebenfalls langfristig betrachten, um eine mögliche Zunahme erkennen zu können. Was man sagen muss: Die Medien sind für die Wahrnehmung schon auch mitverantwortlich.
Wie meinen Sie das?
Jeder hat ein Handy, gewittert es irgendwo, schreibt irgendein Medium gleich eine Story. Nicht jedes Gewitter ist aber ein schlimmes Unwetter. Und Unwetter wiederum gab es auch schon vor 100 und 200 Jahren. Das Unwetter in Brienz ist tragisch, man darf es aber nicht direkt mit dem Klimawandel in Verbindung bringen. Einzelne Gewitter und Überschwemmungen mit dem Klimawandel zu begründen, geht mir gegen den Strich. Vor allem, wenn man sagt, dass es das Gewitter ohne den Klimawandel nicht gegeben hätte. Das Gewitter in Brienz entstand aufgrund von physikalischen Bedingungen, und nicht, weil es über das Jahr gesehen aufgrund der Klimaerwärmung ein bis zwei Grad wärmer war.