Die Bundesversammlung hätte die achte Frau in die Landesregierung wählen können. Sie entschied sich für den achten Tessiner. Dieses Missverhältnis wurde wiederholt angesprochen. Dennoch empfindet man wenig Bedauern für Isabelle Moret. Die Waadtländerin hat einen schlechten Wahlkampf geliefert. Und selbst Unterstützerinnen monierten, dass sie ihre Rolle als alleinerziehende Mutter von schulpflichtigen Kindern nicht klarer hervorheben wollte.
Der Genfer Pierre Maudet wäre ein fähiger Bundesrat. Ihm fehlte jedoch der Rückhalt in Bundesbern. Deshalb gelang es der SP nicht, eine Allianz gegen Ignazio Cassis zu schmieden. Der Anspruch der Sozialdemokraten, erneut eine linksfreisinnige Persönlichkeit in den Bundesrat zu befördern, war ohnehin vermessen. Die FDP hat sich nun einmal mit Erfolg als rechtsbürgerliche Partei positioniert. Cassis steht exemplarisch für diese Entwicklung.
Seine Rolle als Krankenkassen-Lobbyist und seine Anbiederung an die SVP sorgten im Vorfeld für Stirnrunzeln. Muss man nun befürchten, dass er sich im Bundesrat als Marionette der Blocher-Partei verhalten wird? Selbst gemässigte Sozialdemokraten winken ab. Allzu viel werde sich nicht ändern. Bundesrat Cassis hat nicht zuletzt mit seinen Ansichten in der Drogenpolitik gezeigt, dass er den Mut zu eigenständigen und kontroversen Positionen hat.
Auch der Vergleich mit Eveline Widmer-Schlumpf sticht nicht. Die Bündnerin war eine «Hors-sol-Bundesrätin» ohne starke Hausmacht. Sie war auf Gedeih und Verderben abhängig von der Mitte-links-Koalition, die sie gewählt hatte. Ignazio Cassis ist als bisheriger FDP-Fraktionschef ein anderes Kaliber.
Aus zwei Gründen muss man seine Wahl besonders begrüssen. Mit ihm ist die italienische Schweiz wieder im Bundesrat vertreten. Nur zu oft hatte man im Wahlkampf das Gefühl, dies sei eine Lappalie, nach dem Motto: Mit den Tessinern kann man es machen, sie haben keine Alternative. Italiener wollen sie nicht sein, und die Unabhängigkeit fordert nicht einmal die Lega.
Dabei geht es um nichts weniger als den Charakter der Schweiz als Willensnation, die keine gemeinsame Sprache und Kultur aufweist. Bundesrat Cassis hat dies in seiner Ansprache betont. Daraus ergibt sich der verfassungsmässige Anspruch, immer mal wieder in der Landesregierung Einsitz zu nehmen. Nicht zuletzt weil die Tessiner sich vom Rest des Landes oft missverstanden fühlen.
Aus diesem Grund wäre es auch wünschenswert, wenn Bundesrat Cassis das Aussendepartement übernehmen würde. Als Vertreter eines sehr europa- und zuwanderungsskeptischen Kantons kann er die unter Didier Burkhalter ziemlich abgehobene Europapolitik auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Gleichzeitig ist Cassis Pragmatiker genug, um die Bedeutung der bilateralen Verträge und die Grenzen der Schweiz im Umgang mit der EU richtig einzuschätzen.
Schliesslich gibt es einen Aspekt, der im Wahlkampf interessanterweise kaum zur Sprache kam, ausser bei den Querelen um die Rückgabe seines italienischen Passes. Ignazio Cassis ist ein Secondo. Er wurde mit 15 Jahren eingebürgert. Aus der Perspektive strammer Patrioten ist er somit ein «Papierli-Schweizer».
Cassis ist ein gebürtiger Italiener, der in der italienischen Schweiz lebt. Er fällt nicht auf. Das machte es für die SVP einfach, ihn zu unterstützen. Mit einem albanisch-muslimischen Background hätte er es viel schwerer gehabt. Das ändert nichts am positiven Charakter seiner Wahl. Jeder dritte Einwohner der Schweiz hat einen Migrationshintergrund. Die Vertretung dieses Segments im Bundesrat ist ebenso wichtig wie der Anspruch der Frauen.