Eine Schlagzeile, grosse Wirkung. «Im Kampf gegen Corona setzt Bund auf diffusen Wert», hiess es in dicken Buchstaben auf der Titelseite des «Tages-Anzeiger» vom Dienstag. Die Tamedia-Redaktion hatte herausgefunden, dass die ETH Zürich den R-Wert für Anfang Dezember zweimal stark nach unten korrigiert hatte, von 1,13 auf 1,00.
Mit dem R-Wert ist die Reproduktionszahl des Coronavirus gemeint. Sie gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt. Liegt sie über 1, droht die Epidemie ausser Kontrolle zu geraten. Sinkt sie auf 0,8 und weniger, ist eine nachhaltige Senkung der Fallzahlen möglich. Berechnet wird der R-Wert von der ETH-Mathematikerin Tanja Stadler.
Am 19. Dezember betrug der R-Wert – er wird wegen der Inkubationszeit mit einer Verzögerung von zehn Tagen ermittelt – 0,81. Das ersehnte Ziel wäre praktisch erreicht. Das ist bedeutsam, denn für den Bund ist der R-Wert seit Mitte Dezember ein massgebender Faktor, ob die Kantone ihre Restaurants oder Skipisten öffnen dürfen.
Die betroffenen Branchen liessen sich nicht zweimal bitten. Gastro- und Fitnessbetreiber empörten sich in «20 Minuten» über den «zu hoch eingeschätzten R-Wert». Sekundiert wurden sie von der SVP, die am Dienstag vom Bundesrat die sofortige Aufhebung aller Massnahmen und «personelle Konsequenzen» forderte. Mehrere Kantone öffneten am Mittwoch die Skigebiete.
Dabei ist der R-Wert vieles, nur kein verlässlicher Indikator. Er werde geschätzt, sei kompliziert und ungenau, betonte Martin Ackermann, der Präsident der Covid-19-Taskforce des Bundes, am Dienstag vor den Medien. Tanja Stadler teilte mit, der R-Wert sei eine statistische Schätzung und «keine Grundlage für automatische Entscheidungen».
Mit der Betonung des R-Werts hat sich der Bund einen Bärendienst erwiesen. Sie war eine Verlegenheitslösung, um die wegen drohenden neuen Restaurant-Schliessungen wütenden Westschweizer Kantone zu besänftigen. Losgetreten hat der Bund damit eine jener Scheindebatten, die typisch sind für unseren Umgang mit der Coronakrise.
Denn der R-Wert ist tatsächlich nur eine Annäherung. Zwei andere Faktoren sagen wesentlich mehr aus über den Stand von Corona in der Schweiz. Sie zeigen, dass von einer Entspannung keine Rede sein kann. Die Lage der Nation bleibt im Gegenteil kritisch.
Die Ermittlung der Neuinfektionen ist ebenfalls keine exakte Wissenschaft. In Kombination mit der Positivitätsrate erlaubt sie dennoch ein ziemlich verlässliches Bild über die Corona-Situation. Und dieses Bild ist nicht gut. Am Dienstag vermeldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) fast 4200 Neuansteckungen und eine Positivitätsrate von 13,0 Prozent.
Dabei befinden wir uns in der Zeit zwischen den Feiertagen, in denen eigentlich wenig los ist. Patrick Mathys vom BAG betonte am Dienstag, die Zahlen seien immer noch zu hoch. Tatsächlich befinden sich die Neuinfektionen seit Wochen im vierstelligen und die Positivitätsrate im zweistelligen Bereich. Das ist alles andere als nachhaltig.
Patrick Mathys erklärte weiter, er befürchte im Januar eine weitere Zunahme der Neuansteckungen. Zu viele Kontakte über die Feiertage und die offenen Skipisten könnten diesen Effekt befeuern. Und im Hintergrund lauern die mutierten Varianten des Virus, die in der Schweiz aufgetaucht sind und für die wahre Schreckensszenarien entworfen werden.
Das bedeutet Ungemach für die bereits arg strapazierten Schweizer Spitäler. Wobei auch in diesem Fall eine trübe Scheindebatte im Gang ist. Viel zu oft ist die Rede von den Betten auf den Intensivstationen, die nicht ausgelastet seien. Für Massnahmen-Kritiker wie die SVP ist dies ein Beleg dafür, dass alles nicht so schlimm ist und Öffnungen möglich sind.
Dabei sind die Betten leer, weil das Pflegepersonal zur Betreuung der Patienten fehlt. Es ist schon jetzt bis zur Erschöpfung gefordert. Eine weitere Eskalation könnte auch langfristig tragische Folgen für unser Gesundheitswesen haben. Dennoch meinen gewisse Kantone, sie könnten ihre Skilifte laufen lassen, sobald ein Bett auf der Intensivstation frei wird.
Es ist das Elend des schweizerischen Umgangs mit der Coronakrise, dass die Debatte zu häufig um R-Werte und Intensivbetten kreist und zu selten um Menschen – ob Patienten oder Spitalpersonal. Dabei ist klar: Nur wenn wir die Fallzahlen deutlich senken können, ist ein effizientes Contact Tracing und eine Entlastung der Spitäler möglich.
Dafür braucht es konkrete Massnahmen, von der Politik und uns allen, vor allem wenn man das vorerst gemächliche Impftempo im Land berücksichtigt. Der R-Wert ist bestenfalls statistisches Beigemüse. Das scheinen auch die Tamedia-Kollegen begriffen zu haben. «Reproduktionszahl wird überbewertet», hiess es in der Ausgabe vom Mittwoch.
Da hatten sie den Schaden mit ihrer «Skandalisierung» des R-Werts schon angerichtet. Und eine jener unnötigen Phantomdebatten losgetreten, die in dieser Krise niemand braucht.
Auch die Diskussion über weitere oder welche Massnahmen sind sowas von Mühsam.
Wenig Personen treffen, Abstand und Hygiene sind die wichtigsten.
In der Schweiz wird so viel diskutiert, anstatt die wenigen Massnahmen die wir haben, wirklich einzuhalten...
Fallzahlen, Positivitätsrate, 7-Tage Schnitte, Spitaleintritte, Auslastung, R-Wert etc. messen ja alles unterschiedliche Dinge und mit dementsprechend Vor- und Nachteile.
Hier sehe ich aber sowohl die Medien in der Verantwortung, weil ständig neue Werte transportiert wurden (zuerst hiess es, man müsse die Fallzahlen tief halten, dann war R entscheidend etc.) als auch die Politik, die ihr handeln natürlich an solchen Messwerten ausrichtet (R bei Ampeln).
Keine Schelte, es ist einfach für alle sehr schwierig.