Ein Hauch von Bundesratswahl lag am Donnerstag in der Luft. Im Ringen um das Monsterprojekt Altersvorsorge 2020 kam es auf jede einzelne Stimme an. FDP und SVP, die den «70-Franken-Kompromiss» der Einigungskonferenz vehement ablehnten, setzten potenzielle Abweichler in ihren Reihen gnadenlos unter Druck. Auf der Gegenseite verfolgte man dieses Powerplay konsterniert. Eine Nationalrätin bezeichnete das Vorgehen der SVP schlichtweg als «Diktatur».
Die Methode Daumenschraube hatte Erfolg. Die SVP-Nationalräte Ulrich Giezendanner und Christian Imark, die öffentlich ihre Bereitschaft zu einem Ja bekundet hatten, enthielten sich der Stimme. Trotzdem reichte es für die Rechten nicht. Dafür durften Sozialminister Alain Berset und die Mitte-Links-Allianz jubeln, sie erreichten im Nationalrat exakt die wegen der Ausgabenbremse benötigten 101 Stimmen. Die Rentenreform wurde damit haarscharf vor dem Absturz gerettet.
Standhaft geblieben waren die beiden Lega-Vertreter Roberta Pantani und Lorenzo Quadri, die der SVP-Fraktion angehören. Obwohl auch sie von den SVP-Wortführern durch die Mangel gedreht wurden, verhalfen sie der Reform zum Durchbruch, gemeinsam mit den Grünliberalen, die am Mittwoch ins Ja-Lager umgeschwenkt waren. So knapp das Ergebnis war, es ist ein Entscheid der Vernunft. Nun kommt es am 24. September zur Volksabstimmung.
Die nun vorliegende Reform ist kein Meister-, sondern eher ein Flickwerk. Sie enthält heikle Elemente. Der Zuschlag von 70 Franken bei der AHV für Neurentner belastet die Finanzen des Sozialwerks. Auch kann er Neidgefühle bei heutigen Rentnern hervorrufen, die häufig nicht auf Rosen gebettet sind. Die Witwenrente ist in ihrer nun bestätigten Form ein alter Zopf. Und die Erhöhung der Ehepaar-Rente kann sogar als gesellschaftspolitischer Rückschritt interpretiert werden.
Letztlich war dies der Preis dafür, dass die CVP an Bord geholt werden konnte. Man kann den Frust darüber verstehen, dass eine fundierte Debatte über die Zukunft der Altersvorsorge nicht stattgefunden hat. Die alternde Bevölkerung und die höhere Lebenserwartung strapazieren die Rentensysteme, auf Kosten der Jungen. Allerdings verhält sich das «Volk» in dieser Frage inkonsequent. Es erkennt das Problem. Aber ein höheres AHV-Alter oder tiefere Renten? No way!
Das machte die Ausgangslage für Bundesrat und Parlament schwierig. Quer durch alle Parteien war unbestritten, dass das heutige Rentenniveau gehalten werden soll. FDP und SVP haben sich ihr Scheitern am Ende selbst zuzuschreiben. Der Vorschlag, den sie im letzten Herbst gemeinsam mit den Wirtschaftsverbänden handstreichartig präsentiert hatten, überzeugt nicht. Sie wollten die Senkung des BVG-Umwandlungssatzes mit höheren Einzahlungen in die Pensionskassen ausgleichen.
Damit hätten insbesondere die Jüngeren eine zweite Säule aufbauen können. Dies allerdings wirkt erst in ferner Zukunft. Sofort und schmerzhaft spürbar sind hingegen die höheren Lohnabzüge. Sie bleiben in den meisten Fällen an den Arbeitnehmern hängen und tun den Geringverdienern weh, etwa der 45-jährigen Coiffeuse, die die frühere FDP-Ständerätin Christine Egerszegi gegenüber watson als Beispiel erwähnt hat.
Die nun beschlossene Reform sieht bei der beruflichen Vorsorge verträglichere Korrekturen vor. Sie ist unter dem Strich die beste aller schlechten Lösungen. Und sie eröffnet die Chance, erstmals nach 20 Jahren eine Rentenreform erfolgreich über die Bühne zu bringen. Nichtstun war definitiv keine Option. Das von den NZZ-Medien mit der Arroganz der Besserverdienenden geforderte Scheitern der Altersvorsorge 2020 hätte die Debatte nicht entkrampft, sondern blockiert.
Hat die Reform aber auch eine Chance in der Volksabstimmung? Sie ist besser, als viele glauben. Alain Berset ist sich einer Tatsache bewusst: Eine Rentenreform, die von der geschlossenen Linken bekämpft wird, ist an der Urne chancenlos. Dieses Szenario ist nun abgewendet, trotz lautstarken Unmutsbekundungen am linken Rand wegen des Frauenrentenalters 65. Sowohl die SP wie die Gewerkschaften dürften im Abstimmungskampf auf Linie bleiben.
Berset dürfte dabei das Beispiel seiner Parteikollegin Ruth Dreifuss vor Augen haben, die vor 20 Jahren sogar eine Erhöhung des Frauenrentenalters um zwei Jahre (von 62 auf 64) durchbrachte. Natürlich bleibt der «Neidfaktor» der heutigen Pensionäre ein Risiko, und die Wirtschaft dürfte die Reform bekämpfen. Die SVP aber weiss genau, dass sie sich bei Rentenvorlagen nicht auf ihre Wählerschaft verlassen kann. Sie tendiert in solchen Fragen nach links.
Ein Ja am 24. September wäre der richtige Entscheid. Er könnte den Rentenkassen für einige Jahre Luft verschaffen. Der nächste Schritt muss ohnehin bald angepackt werden, denn nach der Reform ist vor der Reform. Dann wird hoffentlich über das Grundsätzliche geredet. Und wer weiss: Wenn das Stimmvolk das 70-Franken-«Geschenk» annimmt, kann man es womöglich davon überzeugen, als «Gegenleistung» ein höheres Rentenalter zu akzeptieren.