Als Herbert Bolliger unsere Zeitung Ende 2017 zum Interview empfing, um über seinen Rücktritt zu sprechen, fiel uns etwas auf. Sein Büro im 19. Stock des Migros-Hochhauses am Zürcher Limmatplatz sah immer noch gleich kahl aus wie gut zwölf Jahre vorher, als wir ihn zum Antrittsinterview getroffen hatten. Und beim ersten Interview stellten wir bereits fest: Bolliger hatte das Mobiliar unverändert von seinem Vorgänger Anton Scherrer übernommen. Als wir Bolliger darauf ansprachen, sagte er: «Ich habe nichts in mein Büro investiert, die Dinge müssen 50 Jahre halten.»
Bolligers Bescheidenheit war keine Koketterie, sie entsprach seinem Naturell. Er jonglierte als Migros-Chef mit Milliarden, blieb selber aber am Boden. Das hatte auch mit seinem Elternhaus zu tun. Sein Vater arbeitete als Metzger bei der Grossmetzgerei Bell. Er ernährte eine fünfköpfige Familie in Wettingen AG. Herbert Bolliger zog es als Ältestes der drei Kinder an die Universität Zürich, wo er Betriebswirtschaft studierte.
1983, im Alter von 30 Jahren, heuerte er bei der Migros an – als Controller. Nach einem Abstecher zu Portland-Cement kehrte er 1987 zur Migros zurück, wo er bis zur Pensionierung bleiben sollte.
Schritt für Schritt kletterte er die Karriereleiter empor, und über all die Jahre blieb sein Wirken frei von Skandalen – was man nicht von allen Migros-Chefs behaupten kann. Mit 40 Jahren wurde Bolliger Informatik-Chef der Migros-Gruppe, kurz darauf Geschäftsleiter der Genossenschaft Migros Aare und schliesslich, mit 52, Konzernchef des Migros-Genossenschaftsbundes. Abgesehen von Firmengründer Gottlieb Duttweiler war in der Geschichte der Migros nur ein Chef länger im Amt als Bolliger.
Bolliger gehörte einer Manager-Generation an, die sich normalerweise kaum Zeit für die Familie nahm. Für Bolliger aber gab es nicht nur das Geschäft. Mit seiner Ehefrau Beatrice hatte er eine Tochter und einen Sohn. Seine Tochter sagt am Telefon, ihr Vater sei immer ein Familienmensch gewesen. An öffentliche Anlässe ging Bolliger kaum je allein, sondern fast immer in Begleitung seiner Ehefrau Beatrice. Premieren und andere Events zu besuchen, war für beide keine Pflichtübung, sondern sie liebten es, vor allem, wenn es um Kultur ging. Solange er Migros-Chef sei, sagte Bolliger einmal, werde das Kulturprozent nie angetastet werden.
Eines der letzten Male, an denen die Bolligers öffentlich in Erscheinung traten, war die Zirkus-Knie-Premiere vor zwei Jahren. Herbert Bolliger war gezeichnet von einer Krebstherapie, er hatte keine Haare mehr und sprach in der Pause offen über seine Krankheit.
So trocken er auf viele wirkte, so offen und bisweilen schalkhaft war er: An einem Konzert im KKL Luzern verblüffte er die Gäste, als er beim Apéro nicht übers Wetter sprach, sondern über sein Testament. Er habe es eben beglaubigen lassen, erzählte er; damit solle man nicht zu lange warten. Das war noch, bevor ihn der Krebs erfasst hatte, an dem er in der Nacht auf Donnerstag verstorben ist.
Während sein Migros-Chefbüro unverändert blieb, wandelte sich das Unternehmen in der Ära Bolliger stark. Kaum hatte er als CEO angefangen, wurde ruchbar, dass die Besitzerfamilie von Denner einen Käufer suchte. Sollte die Migros zugreifen? Ex-Controller Bolliger begann zu rechnen und merkte: ja. Den Deal mit Philippe Gaydoul habe er im Wesentlichen selber verhandelt, erzählte er später in unserem Interview: «Den Vertrag haben wir ohne Übernahmespezialisten ‹gebastelt›.»
Der Preis wurde nie bekannt, die Rede war von 700 Millionen Franken. Die Rechnung ging auf, Denner wuchs seither stark und ist profitabel. Das gilt noch ausgeprägter für Digitec/Galaxus, dank der die Migros ab 2012 die Nummer eins im Onlinehandel wurde. Es war der entscheidende Schritt ins digitale Zeitalter.
In Bolligers Amtszeit fiel der Einstieg der deutschen Harddiscounter Lidl und Aldi in der Schweiz. 2009 interviewte ihn unsere Zeitung dazu, und die Reaktionen darauf waren so heftig, dass Bolliger in die Redaktion anrief und sagte: «Da habt ihr bei der Schlagzeile aber sehr viel Gas gegeben!» Diese lautete: «Migros-Chef: Schwere Vorwürfe gegen Aldi und Lidl». Seine Aussagen waren insofern spektakulär, als es im Schweizer Detailhandel bis dato ein ungeschriebenes Gesetz war, dass Migros- und Coop-Chefs nie über die Konkurrenz sprachen. Andere Unternehmen wurden vornehm als «Mitbewerber» bezeichnet.
Im Interview aber nannte Bolliger Ross und Reiter. Er sagte: «Die Besitzer von Aldi und Lidl werden immer reicher und drücken auf Kosten der Produzenten und Mitarbeiter permanent die Preise.» Das sei «volkswirtschaftlich ganz übel». Kurzfristig seien die Preissenkungen für die Konsumenten zwar positiv, aber langfristig verheerend: «Der brutale Preiskampf vernichtet ganze Unternehmen und Existenzen.»
Während Bolliger damals noch erschrak über die Wellen, die diese Zitate schlugen, fand er später Gefallen an pointierten Äusserungen. So kritisierte er die langwierigen Bewilligungsverfahren für neue Läden und Bauprojekte – und auch den Einkaufstourismus. Bolliger legte sich gar mit dem damaligen Bundesrat Johann Schneider-Ammann an. Als dieser Verständnis für das Einkaufen im grenznahen Ausland zeigte, sagte Bolliger: «Unser Volkswirtschaftsminister verursacht nur noch Kopfschütteln. Seine Aussage ist kurzsichtig.»
Bolliger war im Herzen Patriot, wie sich einst auch in einer 1.-August-Rede in Baden zeigte. Die Migros empfand er als ein Stück Schweiz. Bei seinem Rücktritt fragten wir ihn, ob die schwerfällige Genossenschaftsstruktur noch zukunftstauglich sei. Er reagierte mit einer Gegenfrage: «Glauben Sie, dass die Schweiz mit ihrem direktdemokratischen Modell noch zukunftstauglich ist? Solange die Schweiz eine Zukunft hat mit ihrer Struktur, hat auch die Migros eine.»
Bolliger sah die Nachteile der vielen regionalen Genossenschaften durchaus – ein Hemmnis, dessen sich Coop mit dem damaligen Chef Hansueli Loosli entledigt hatte («Coop forte»). Zugleich aber war Bolliger Realist genug, um zu wissen: Er könnte 20 Jahre im Amt bleiben und die Struktur nicht zerschlagen. Bei Coop gelang das aufgrund einer existenziellen Krise.
Die Migros-Welt war unter Bolliger noch in Ordnung. Zwischen 2005 und 2017 stieg der Umsatz von 20 auf 27 Milliarden Franken, der Marktanteil von 18 auf 22 Prozent – und die Zahl der Mitarbeitenden erstmals über die Marke von 100’000. Und das trotz Aldi, Lidl und Einkaufstourismus.
Kritik wurde erst im Nachhinein laut: Das Unternehmen habe sich damals zu weit verzettelt und im Kerngeschäft an Profitabilität eingebüsst. Unter dem aktuellen Chef Mario Irminger fokussiert sich die Migros wieder stärker auf das Kerngeschäft. Sparten wie Hotelplan, Melectronics oder SportX hat sie verkauft.
Aber: Bolligers Errungenschaften Denner und Digitec/Galaxus bleiben unbestrittene Teile des Konzerns, das Digitalgeschäft ist der Wachstumstreiber.
Bolliger mochte die Migros-Umbauten nach seinem Rücktritt nicht mehr kommentieren, obwohl es ihn «juckte», wie er sagte. Nur einmal ging er an die Öffentlichkeit: Er kämpfte 2022 gegen die Aufhebung des Alkoholverkaufsverbots – und somit gegen seine Nachfolger. Als «einfacher Genossenschafter», wie er betonte. Die Urabstimmung ging deutlich in Bolligers Sinn aus. Ein letztes Mal hat er die Migros geprägt. (aargauerzeitung.ch)
alles Gute der Familie, fanbd Bolliger hat vieles gut und richtig gemacht, seine Nachfolger nicht!