Der Kanton Luzern ist noch immer stark von der Landwirtschaft geprägt. Rund 4400 Landwirte verdienen ihren Lebensunterhalt mit einem Bauernhof. Sie mästen Schweine, melken Kühe oder sind im Acker- und Gemüseanbau tätig. Nur der benachbarte Kanton Bern zählt noch mehr Betriebe.
Aus dem Büro von Stephan Bohlhalter, im dritten Stock des Luzerner Neurozentrums, sind einige der umliegenden Höfe nur stecknadelgross in der Ferne erkennbar. Sie verschwinden an diesem sonnigen Frühjahrstag im März hinter der ausgezeichneten Sicht auf die Innerschweizer Berge.
Doch die ländliche Idylle trügt, wie der Chefarzt der Klinik für Neurologie und Neurorehabilitation zu wissen glaubt. Seit er vor 12 Jahren nach Luzern gekommen ist, treibt ihn eine Frage um: Warum kommen überdurchschnittlich viele Patientinnen und Patienten in seine Parkinson-Sprechstunde, die in einem landwirtschaftlichen Umfeld wohnen oder arbeiten?
Bohlhalter, ganz Wissenschaftler, hat seine Alltagsbeobachtung als These formuliert: Es sind mutmasslich die Umweltfaktoren, die dafür sorgen, dass immer mehr Menschen in der Schweiz an Parkinson erkranken. Genauer: Es sind Pestizide, denen die Patientinnen und Patienten ausgesetzt waren oder sind. Denn allein der Umstand, dass die Bevölkerung immer älter wird, greift als Erklärung für die zunehmende Verbreitung zu kurz: Weltweit steigt die Zahl der Betroffenen, selbst wenn man den Alterseffekt herausrechnet. In der Schweiz erkranken schätzungsweise 1500 Personen pro Jahr.
Um seine Beobachtung mit Zahlen zu untermauern, leuchtet Bohlhalter die beruflichen Hintergründe seiner Patientinnen und Patienten aus. «In einer laufenden Untersuchung innerhalb des Luzerner Kantonsspitals vergleichen wir Parkinson-Patienten mit Patienten aus anderen Sprechstunden. Dabei haben wir uns gefragt: Sind Parkinson-Patienten häufiger in der Landwirtschaft tätig?», erklärt Bohlhalter. «Vorläufige Ergebnisse zeigen, dass dies tatsächlich so ist.»
Nebst diesen eigenen Beobachtungen stützt sich der 58-Jährige bei seiner These auf internationale Studien. Sein Wort hat Gewicht: Bohlhalter ist nicht nur Chefarzt, sondern auch Titularprofessor für Neurologie an der Universität Zürich sowie Präsident des fachlichen Beirats von Parkinson Schweiz.
Doch bei seiner Suche nach Antworten kämpft Bohlhalter mit der sehr dünnen Datenlage in der Schweiz. Denn hierzulande, wo der Bund sonst detaillierte Daten über alle Lebensbereiche sammelt, fehlt ein nationales Parkinson-Register. Es ist nicht bekannt, wie viele Menschen genau pro Jahr neu erkranken. Ebenfalls im Dunkeln liegt, aus welchem Milieu diese Patientinnen und Patienten stammen.
Eine aktuelle Hochrechnung, wonach in der Schweiz 15'000 Personen an der Krankheit leiden, basiert auf Schätzungen. Eine Genfer Studie von 2018 kommt im Kanton Genf auf ähnliche Zahlen. Ansonsten gibt es keine verlässlichen Daten. Es gibt zudem keine Untersuchung für die Schweiz, die den Zusammenhang zwischen Pestiziden und Parkinson eingehend untersucht hätte. Einer der wenigen Anhaltspunkte lieferte vor fünf Jahren ein Forscherteam der Universität Lausanne, das im Auftrag des Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) unzählige internationale Studien zu den Pestizid-Risiken in der Landwirtschaft ausgewertet hatte.
Mehrere Wirkstoffe, die in der Schweiz zugelassen seien, hätten «eine moderate oder starke Assoziation mit chronischen Erkrankungen gezeigt», so der Befund. Konkret wiesen sechs Wirkstoffe eine vermutlich moderate oder schwache Assoziation mit gewissen Krebserkrankungen auf. «Eindeutige» Belege fanden die Forscher zum Zusammenhang von Parkinson und der beruflichen Exposition von Pestiziden. Eine zuverlässige Meta-Analyse zeigt demnach: Wer beruflich mit Pestiziden zu tun hat, trägt ein mehr als 50 Prozent höheres Risiko, an Parkinson zu erkranken. Insgesamt sind zwar Landwirte gesünder als Beschäftigte in anderen Branchen. Aber: Sie leiden häufiger an spezifischen Krankheiten durch Pestizid-Exposition.
Um hier weiteres Licht ins Dunkel zu bringen, setzt Stephan Bohlhalter auf ein nationales Register, das zusammen mit Schweizer Spitälern aufgebaut wird. Ebenfalls in Kontakt steht er mit den Krankenkassen. «Diese Daten wären besonders interessant, weil die Krankenkassen über Gesundheitsdaten von vielen Versicherten verfügen, zum Beispiel, welche Medikamente sie einnehmen und wo sie leben.»
Bis verlässliche Daten für die Schweiz vorliegen, stützt sich Bohlhalter auf ausländische Studien. So zeigen französische Untersuchungen, dass Parkinson vor allem bei Winzern gehäuft vorkommt – vermutlich, weil sie direkt mit Insektiziden zu tun haben. In Frankreich und Italien ist Parkinson als Berufskrankheit anerkannt.
Daneben ist für Bohlhalter eine umfassende Studie aus Kalifornien wegweisend. Sie zeigt nicht nur, dass zwischen Pestiziden und dem Ausbruch von Parkinson ein Zusammenhang besteht. Sie belegt zudem: Wer gewissen Pestiziden ausgesetzt war, dessen Zustand verschlechterte sich rascher als bei anderen Patienten.
In ihrer gross angelegten Untersuchung haben die Forscher der University of California ermittelt, welche Wirkstoffe in welcher Menge in der Wohn- oder Arbeitsumgebung von insgesamt 833 Parkinson-Patienten von 1974 bis zu deren Krankheitsausbruch ausgebracht worden waren. Die Studie fokussierte danach auf 53 Pestizide, die bereits im Verdacht stehen, Parkinson auszulösen. Das Resultat: Zehn Pestizide, denen die Patienten exponiert waren, verschlimmerten die Krankheit. Die Betroffenen verloren beispielsweise rascher motorische, kognitive Fähigkeiten oder entwickelten häufiger Depressionen als andere Patienten. Besonders auffällig verhielten sich die Substanzen Kupfersulfat und MCPA: Je länger eine Person ihnen ausgesetzt war, desto stärker verschlimmerten sich die Beschwerden in allen drei Symptombereichen.
Für die kalifornischen Forscherinnen und Forscher ist klar, dass weitere Studien die Parkinson-Risiken einzelner Stoffe sowie jene der Pestizid-Cocktails, mit denen die Menschen in ihrem Leben in Kontakt geraten, beleuchten sollten. Auf dieser Basis könnten sodann die Gefahren einer krankmachenden Exposition reduziert werden. Sprich: Die Behörden könnten Produkte mit entsprechenden Wirkstoffen, die mit Parkinson in Verbindung stehen, verbieten. Auch in der Schweiz sind Dutzende Produkte zugelassen, die einen dieser untersuchten Wirkstoffe enthalten.
Warum greifen hier die Behörden hier nicht ein? Warum verlangen sie nicht von den Herstellern, ihre Produkte auf langfristige Risiken zu testen? Die Antwort ist, zumindest für Parkinson-Spezialist Bohlhalter, ernüchternd: Die Zulassungsbehörden prüfen bisher mögliche schädliche Langzeitwirkungen eines formulierten Pflanzenschutzmittels gar nicht. Sie konzentrieren sich darauf, ob der einzelne darin enthaltene Wirkstoff – also etwa Kupfersulfat – die gesetzlichen Anforderungen erfüllt. In der Regel verlässt sich das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit dabei auf die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA in Parma.
Das heisst: Die Agrochemie muss unter anderem zwar in Tierversuchen beweisen, dass ein Stoff nicht krebserregend ist. Und für das Endprodukt muss es nachweisen, dass es nicht akut toxisch ist. Doch alles, was das auf dem Feld ausgebrachte Pestizid darüber hinaus anrichten könnte, liegt im Dunkeln. Es könnte deshalb sein, dass nicht allein die in der US-Studie identifizierten Stoffe die Parkinson-Krankheit verstärkt haben. Auch ein Beistoff, der im «Cocktail» eine problematische Wirkung entfaltet, könnte eine Rolle spielen. Um dies zu beweisen, bräuchte es teure Langzeitstudien. «Wir fahren heute weitgehend auf Sicht, vieles wissen wir nicht», sagt ein langjähriger Branchenkenner.
Wie komplex das Zusammenspiel verschiedener Inhaltsstoffe ist, wird beim berüchtigten Unkrautvernichter Round-up greifbar: Während die Internationale Agentur für Krebsforschung Glyphosat als «wahrscheinlich krebserregend» einstufte, kam die Europäische Aufsichtsbehörde EFSA zum gegenteiligen Schluss.
Wie können Experten denselben Wirkstoff so unterschiedlich beurteilen? Die Erklärung: Die EFSA bewertete nur die isolierte Substanz Glyphosat, die Agentur der WHO dagegen die fertigen Rezepturen von Pflanzenschutzmitteln. Es seien wohl einige der «genotoxischen Effekte», schreibt die EFSA, auf Beistoffe in Glyphosat-Produkten zurückzuführen.
Die Schweizer Behörden stützen sich bei der Zulassung stark auf die EU-Behörde. «Sie beurteilt Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffe in ihrer reinen Form einzeln. Aber auch die formulierten Produkte werden anhand weniger Studien auf ihre akute Toxizität geprüft», so das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit. Dieser Ansatz gehe davon aus, dass die Toxizität eines Wirkstoffs im formulierten Produkt unwesentlich anders sei als die des reinen Wirkstoffs. «Uns sind keine Bestrebungen bekannt, die eine intensivere Testung der formulierten Produkte vorsieht.» Sollte das System angepasst werden, werde es die Schweiz aber wohl übernehmen.
Bis mehr Daten über die Verbindung von Parkinson und Pestiziden vorliegen, wird es noch Jahre dauern. Dennoch gibt es auch auf Bundesebene erste Ansätze, die Datenqualität zu verbessern. Seit 2020 liegt ein nationales Krebsregister vor. Und bis 2025 baut der Bund ein Register der Bewilligungsinhaber für Pestizide auf. Ebenso liegen umfangreiche Zahlen aus dem Agrarpolitischen Informationssystem vor. Diese Quellen liessen es zu, die Zusammenhänge von Pflanzenschutzmitteln und Krebserkrankungen genauer zu untersuchen. Eine Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) kam zum Schluss, dass mit der zunehmenden Digitalisierung ein breiteres Überwachungssystem für weitere schwere Krankheiten und deren Verbindungen zu Pestiziden denkbar wäre – also auch für Parkinson.
«Wenn in der Schweiz Gesundheitsprobleme beobachtet werden, die mit der beruflichen Verwendung von Pflanzenschutzmitteln assoziiert sind, könnten regelmässige Arztbesuche oder ein Meldesystem für chronische Gesundheitsprobleme in Betracht gezogen werden», so die Forscher.
Einen Grundsatzentscheid für den Aufbau eines Überwachungssystems hat der Bundesrat bisher nicht gefällt, schreibt das Seco auf Anfrage. Die Mühlen der Verwaltung mahlen langsam. Von den ersten politischen Vorstössen bis zur Einführung eines nationalen Krebsregisters hatte es mehr als zwanzig Jahre gedauert. Die Chancen stehen also gut, dass Stephan Bohlhalter mit seinen Ansätzen zur Datensammlung schon früher belastbare Daten zum Parkinson-Pestizid-Komplex liefern kann.
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Die grosse Datensammlung hat schon vor Jahrzehnten begonnen und klappt wunderbar, um uns beispielsweise mit unnötigen Konsumgütern zu überfluten.
Aber dort wo es wichtig wäre, steht es noch nicht mal im Aussicht.
Einmal mehr sieht man, was Vorrang hat in unserer schönen Welt.
An einem aufwändigen Prozess von NGO's gegen Monsanto wurde von einem Gericht bestätigt, dass viele Menschen, welche übermässig in Kontakt mit z.B. in "Roundup" enthaltenem Glyphosat an Krebs erkranken und sterben.
Im Falle von Parkinson wird die Agroindustrie die bekannte Ausrede bringen, dass zeitliche- keine ursächlichen Zusammenhänge sind.
Also beweist den Zusammenhang mal bei einem Stumpenraucher!...