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Hunger und Armut waren lange auf dem Rückzug – nun droht ein Rückschlag

Laut der Uno litten 2021 rund 700 bis 830 Millionen Menschen weltweit an Hunger. Das sind rund 10 Prozent der Weltbevölkerung.
Laut Uno litten 2021 rund 700 bis 830 Millionen Menschen weltweit an Hunger. Das sind rund 10 Prozent der Weltbevölkerung.Bild: Shutterstock

Hunger und Armut waren lange auf dem Rückzug – warum nun ein Rückschlag droht

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16.12.2022, 10:5517.12.2022, 15:18
Daniel Huber
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Während Jahrtausenden, sicher aber seit der Neolithischen Revolution, war der Hunger ein stetiger Begleiter des Menschen. «Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr» – dieses Stossgebet aus der Schweiz der Frühen Neuzeit benennt die Geisseln der Menschheit, die immer wieder unbarmherzig zuschlugen und die Bevölkerung dezimierten.

Wie das Gebet zeigt, sah man im Hunger eine gottgegebene Tatsache. Er war eine periodisch wiederkehrende, letztlich aber unabwendbare Plage, wohl eine Strafe Gottes für die Sünden der Menschen. Das bedeutet nicht, dass man nichts dagegen unternahm – Machthaber waren nur schon aus Gründen des Machterhalts daran interessiert, Hungerkrisen zu vermeiden, da sie schnell zu Revolten führen konnten. Doch der Gedanke, den Hunger ein und für alle Mal aus der Welt zu schaffen, taucht erst in der Moderne auf.

Von Malthus bis Ehrlich

Der erste quasi wissenschaftliche Blick auf das Problem des Hungers stammt vom englischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766-1834). Malthus sah aber keine Lösung für das Problem, sondern betrachtete den Hunger als notwendige Folge des Bevölkerungswachstums. Die Nahrungsmittelproduktion steige linear an, die Bevölkerung indes exponentiell, argumentierte er. Diese Bevölkerungsfalle müsse zwangsläufig zu Hungerkrisen führen, die dann die Bevölkerung wieder dezimierten.

Thomas Robert Malthus
Der englische Ökonom Malthus. Bild: PD

Diese pessimistische Sicht war äusserst wirkmächtig; noch heute sind malthusianische Befürchtungen im Umlauf. Besonders Ende der 1960er-Jahre und zu Beginn der 1970er-Jahre, als der Fortschrittsoptimismus in den industrialisierten Ländern zu erlahmen begann, waren neo-malthusianische Katastrophen-Szenarien populär. Ein herausragendes Beispiel ist der amerikanische Biologe Paul Ehrlich mit seinem Bestseller «The Population Bomb» («Die Bevölkerungsbombe», 1968). Darin sagte er voraus, dass in den 1970er-Jahren hunderte Millionen Menschen verhungern würden. Dazu kam es nicht.

Westeuropa als Wiege einer effizienteren Landwirtschaft

Lange vor Malthus zeigten sich in Westeuropa schon erste Ansätze zu einer effizienteren und produktiveren Landwirtschaft, die den Hunger – zumindest in Friedenszeiten – nahezu besiegte. Die Grundlage für diesen Erfolg war der Zerfall des mittelalterlichen Feudalsystems im 16. und 17. Jahrhundert und die damit einhergehende Kommerzialisierung der Landwirtschaft. Freie Arbeitskräfte ersetzten zunehmend die unfreie Arbeit von Leibeigenen. Die Bauern, die ihre steigenden Abgaben nun in Form von Geld zu entrichten hatten, mussten Ernten produzieren, deren Überschüsse sie verkaufen konnten. Zudem sorgte die zunehmende Konkurrenz dafür, dass sich bessere Techniken zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und neue Anbaumethoden durchsetzen konnten.

Die Kornernte (Hochsommer), Gemälde von Pieter Bruegel d. Ä.,1565
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Der Zerfall des Feudalsystems veränderte die traditionelle Landwirtschaft des Mittelalters tiefgreifend. «Die Kornernte», Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren, 1565. Bild: Wikimedia

Bereits Ende des 16. Jahrhunderts war die Entwicklung im wohlhabenden Holland, der dominierenden Provinz der Vereinigten Niederlande, so weit fortgeschritten, dass eine allgemeine Hungersnot in Westeuropa die Bevölkerung dieser Provinz nicht betraf. Die Landwirtschaft in Holland war stark kommerzialisiert und spezialisiert; angebaut wurden auch Industriepflanzen wie Flachs, Hanf und Hopfen. Etwas später setzte eine ähnliche Entwicklung auch in England ein. Dort kam es 1623-1624 zur letzten Hungersnot in Friedenszeiten. Die landwirtschaftliche Nutzfläche nahm zu, etwa durch die Trockenlegung von Sümpfen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war die englische Landwirtschaft die produktivste in Europa. In anderen Regionen des Kontinents kam es nach wie vor zu Hungersnöten; in Osteuropa bis ins 20. Jahrhundert hinein.

Neue Anbaumethoden

Veränderte Anbaumethoden und neue Feldfrüchte steigerten die Produktivität der Landwirtschaft entscheidend. Sie begannen im ausgehenden 18. Jahrhundert; etwa mit dem Wechsel von der traditionellen Dreifelderwirtschaft zur Fruchtwechselwirtschaft. Zunächst pflanzte man, statt den Acker brach liegen zu lassen wie in der Dreifelderwirtschaft, Futterpflanzen an. Dies erlaubte die Ausweitung der Viehhaltung. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der regelmässige Wechsel von Blatt- und Halmfrüchten üblich, der heute noch praktiziert wird. Die Erträge stiegen auch durch den zusätzlichen Dünger, der aufgrund der Viehhaltung anfiel.

Kartoffelanbau, ca. 1910, Russisches Kaiserreich
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Kartoffelanbau im Russischen Kaiserreich, um 1910.Bild: Wikimedia

Mit der Einführung neuer Feldfrüchte stieg die Vielfalt der angebauten Nahrungsmittel- und Futterpflanzen. Hier ist vor allem die Kartoffel zu erwähnen, die in immer grösserem Stil angebaut wurde und sich in den meisten europäischen Ländern zum Volksnahrungsmittel entwickelte. Daneben spielten weitere Feldfrüchte wie Zuckerrüben, Klee, Kohl, Mais, Raps oder Hopfen eine zunehmend wichtige Rolle. Begleitet wurden diese Neuerungen durch technische Innovationen, etwa den Pflug mit gewölbtem Streichblech, der die Hacke ersetzte. Zugleich wich der Ochse als Arbeitstier auf den Feldern immer mehr dem Pferd.

Künstlicher Dünger

Dünger ist notwendig, um dem Boden die Nährstoffe und Mineralsalze zurückzugeben, die ihm durch Nutzpflanzen entzogen werden. Schon seit Jahrtausenden dienten menschliche und tierische Ausscheidungen diesem Zweck. Hinzu kam seit etwa der Römerzeit die Düngung mit Stickstoff sammelnden Pflanzen, die dann in den Boden untergepflügt wurden. Diese Massnahmen konnten nicht verhindern, dass die Böden in Europa im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit zusehends ausgelaugt waren. Missernten und Hungersnöte nahmen deshalb zu.

Justus von Liebig, ca. 1866 
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Die Erkenntnisse des Chemikers von Liebig machten den Weg zu modernen künstlichen Düngemitteln frei.Bild: Wikimedia

Die künstliche Düngung löste dieses Problem und verhalf der Landwirtschaft zu ungeahnten Ertragssteigerungen. Wir verdanken sie hauptsächlich dem deutschen Chemiker Justus von Liebig (1803-1873). Er erkannte, dass es letztlich anorganische Stoffe sind, die den Pflanzen als Nährstoff dienen. Diese entscheidende Erkenntnis ebnete den Weg zur industriellen Herstellung von Düngemitteln, wie sie heute üblich ist. Im grossen Stil kam der Durchbruch der künstlichen Düngemittel allerdings erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Ammoniaksynthese in einem industriell umsetzbaren Verfahren möglich wurde – Ammoniak ist die wichtigste Vorstufe für den Stickstoffdünger.

Grüne Revolution

In den 1960er-Jahren begann eine Entwicklung, die wir heute unter dem Schlagwort «Grüne Revolution» zusammenfassen. Sie umfasst die Einführung neuer Technologien in der Landwirtschaft von Entwicklungsländern – namentlich in Asien –, die Entwicklung moderner Hochleistungssorten bei Weizen und Reis sowie den Einsatz von synthetischen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln.

Es war vornehmlich die Grüne Revolution, die zur Verdreifachung der weltweiten Nahrungsmittelproduktion in den letzten Jahrzehnten beitrug. Damit übertraf deren Wachstum das der Bevölkerung – es ist die Grüne Revolution, die Paul Ehrlichs pessimistische Voraussagen zum Welthunger Lügen strafte. Ohne Hochleistungssorten gäbe es heute etwa 200 Millionen mehr Hungernde auf der Welt. Die Grüne Revolution trug auch dazu bei, die Mangelernährung und die Kindersterblichkeit zu senken.

Probleme und Rückschläge

Die Grüne Revolution hat zweifellos grosse Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft ermöglicht, zugleich aber auch Probleme – vor allem in der Ökologie – verstärkt oder gar neu geschaffen. Zu diesen ökologischen Problemen gehören etwa die Bodendegradierung, beispielsweise durch Versalzung, die Verdrängung ursprünglicher Pflanzenarten und damit die Verringerung der Artenvielfalt sowie die Umweltbelastung durch Pestizide und Mineraldünger.

Nach einem Rückgang des Hungers steigt er seit 2015 erneut deutlich an. 
https://de.wikipedia.org/wiki/Welthunger#/media/Datei:Anzahl_der_Hungernden_weltweit_ab_2000.svg
Der Hunger ging seit 2003 – vor allem in relativen Zahlen – deutlich zurück, doch seit 2015 steigen die Zahlen wieder. Dabei sind die Folgen der Corona-Pandemie und des Ukraine-Kriegs noch gar nicht berücksichtigt. Grafik: Wikimedia

Hinzu kommt die Abhängigkeit der lokalen Bauern, aber auch von Entwicklungsländern insgesamt, von multinationalen Konzernen. Dazu vergrösserte sich zumindest in einigen Regionen die Ungleichheit zwischen armen und reichen Bauern markant, da sich viele arme Bauern chemische Pestizide und Düngemittel gar nicht erst leisten konnten. Dies führte besonders in Indien dazu, dass zahllose Kleinbauern ihr Land verloren oder in die Schuldknechtschaft bei reichen Bauern gerieten.

Akzentuiert wurden bereits bestehende Probleme durch die Coronakrise und auch durch den Krieg in der Ukraine. Der Wachstumseinbruch der Weltwirtschaft durch die Pandemie dürfte im globalen Süden zu verstärkter Armut und Unterernährung geführt haben; der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verschärfte die Lage erheblich. Hinzu treten die Folgen der Klimaerwärmung zunehmend zutage, etwa in den Dürren am Horn von Afrika oder kürzlich in Madagaskar.

Nicht zu wenig, aber falsch verteilt

Nach wie vor ist es aber so, dass weltweit mehr Nahrung produziert wird, als die Weltbevölkerung effektiv benötigt. Das Problem bei Hungersnöten liegt fast immer darin, dass die durchaus vorhandenen Lebensmittel die Hungernden gar nicht erreichen. Rund die Hälfte der Hungernden sind Kleinbauern, die als Selbstversorger nicht die Mittel haben, bei Bedarf ausreichend Lebensmittel hinzuzukaufen. Die andere Hälfte der Hungernden besteht vor allem aus Landarbeitern ohne eigenes Land und Bewohnern städtischer Elendsviertel. Ihre Armut macht sie anfällig für Hunger.

Food-Waste
Food Waste: In den Industrieländern landen jährlich 300 Millionen Tonnen Nahrungsmittel im Müll. Bild: Shutterstock

Ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich beim Hunger primär um ein Verteilungsproblem handelt, ist die Tatsache, dass laut Zahlen der Uno jedes Jahr 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel weggeworfen werden – rund viermal mehr, als nötig wäre, um sämtliche Hungernden der Welt mit Nahrung zu versorgen. Nur schon die in den Industrieländern weggeworfenen 300 Millionen Tonnen pro Jahr würden alle hungernden Menschen ernähren können.

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Zahlen und Fakten zum Hunger
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Zahlen und Fakten zum Hunger
Ein Drittel aller weltweit produzierten Nahrungsmittel wird nicht verzehrt; viel landet in der Energieproduktion oder in wohlhabenden Ländern auf dem Müll.
quelle: x02850 / jorge dan lopez
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Schuld am Food Waste ist nicht der Supermarkt, sondern wir
Video: srf
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40 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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raues Endoplasmatisches Retikulum
16.12.2022 11:57registriert Juli 2017
Das Verteilungsproblem scheitert ja nicht daran, dass im Migros zu viel weggeschmissen wird, sondern daran, dass gewisse Weltgegenden aufgrund mangelnder Infrastruktur oder Krieg nicht an die weltweiten Warenströme angeschlossen sind. Die Berichte über den Süden von Madagaska zeigen es ja auf, es gibt gar keine Infrastruktur und von Seiten des Madagasischen Staates auch gar kein interesse daran, eine solche zu errichten. Dementsprechend schwierig ist es auch, die Menschen dort zu erreichen.
Oder Yemen und Syrien, wo der Zugang zu Lebensmittel als politisches Druckmittel eingesetzt wird.
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Granatä Sepp
16.12.2022 12:51registriert April 2021
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Solange sich die Bevölkerung in den hungernden Ländern vermehrt wie die Karnickel wird sich die Situation nicht wirklich ändern.
Es ist aber auch ein Problem, dass die betroffenen Regionen sich nicht selbst zu helfen wissen.
Aussage eines Bürgers eines Afrikanischen Landes:" Wozu soll ich Ackerbau betreiben solange wir bestohlen und ausgebeutet werden. Da hoffe ich lieber auf Hilfe aus den wohlhabenden Ländern und geh mich besaufen."

Die Probleme müssen an der Wurzel gepackt werden um was zu erreichen. Hilfelieferung bringt auf Dauer einen feuchten.
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