Wenn das System versagt: Wie eine Frau im Krankheitsdschungel fast alles verlor
Krankentaggeldversicherungen sollten Menschen während langer Krankheit unterstützen, damit sie nicht in die Armut abrutschen. Doch regelmässig fallen Betroffene durch die Maschen. Ausgerechnet in einer kräftezehrenden Lebensphase müssen sie eine Unmenge an Formularen ausfüllen. Und manchmal machen Arbeitgeber und Versicherungsleister gleichzeitig Fehler, die verheerende Folgen haben, wie der Fall von M.K. zeigt.
Zum ersten Mal Krankentaggeld erhält M.K. im Herbst 2021. Zwar ist sie schon lange krank, mit elf Jahren war bei ihr eine Depression festgestellt worden, seither stapeln sich die psychiatrischen Diagnosen. Trotzdem macht M.K. eine kaufmännische Ausbildung, arbeitet zehn Jahre in einer guten Position, verdient 8000 Franken im Monat. Ihre Krankheiten kann sie lange verstecken, weil sie in guten Zeiten schnell arbeitet, auf ein gepflegtes Äusseres schaut, sich gut verstellen kann.
Doch dann passiert ein Übergriff. M.K. will keine Details preisgeben, nur Folgendes: Es geschieht an einem Familienfest und ihre Mutter gibt ihr die Schuld. «Du hättest dich anders verhalten sollen», sagt sie immer wieder am Telefon. Wie eine aufgezogene Spieluhr. «Du hättest dich anders verhalten sollen.» Bis M.K. zusammenbricht. Tagelang am Boden liegt und weint. Vor- und zurückwippt. Und nur noch ins Leere starrt. Sie wird wegen der Gesamtheit ihrer psychischen Probleme – Depression, Bipolarität, Borderline, ADHS, Angststörung – krankgeschrieben. Das ist der 30. September 2021.
Die Krankschreibung dauert zwei Jahre. M.K. lebt vom Geld der Krankentaggeldversicherung, die ihr Arbeitgeber abgeschlossen hatte. Meldet sich vorsorglich bei der Invalidenversicherung (IV) an. Geht zur Therapie. Versucht zu heilen.
Nach zwei Jahren endet ihr Versicherungsgeld. Sie beginnt wieder im reduzierten Pensum zu arbeiten, dann in Vollzeit. Und nicht nur das: M.K. verpflichtet sich, einen Kongress zu organisieren. Achttausend Franken soll sie dafür erhalten, mit dem Geld will sie endlich wieder in die Ferien. Doch die Doppelbelastung ist zu viel. Elf Monate nach ihrem Wiedereinstieg in den Beruf wird M.K. erneut krankgeschrieben. Diagnose: Erschöpfungsdepression, auch bekannt als Burnout.
Die Angst, obdachlos zu werden
M.K. wurde mit der Überzeugung erzogen, dass nur ein arbeitender Mensch ein wertvoller Mensch ist. Doch jetzt sitzt sie zuhause und kriegt eine Panikattacke. Geht mit ihrem Hund spazieren und kriegt wieder Panik. Die Luft bleibt ihr weg, Angst steigt in ihre Kehle. Bis zu vierzig Mal am Tag.
M.K. glaubt, wieder Anspruch auf Krankentaggeld zu haben. Doch das Geld bleibt aus. Wieso, weiss sie zunächst nicht. Das Geld auf ihrem Konto schmilzt dahin. M.K. fürchtet, obdachlos zu werden. Sie meldet sich für den Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik an. Es ist November, sie hat Suizidpläne. Eintreten kann sie Mitte Juni im nächsten Jahr.
Dann überweist die Versicherung überraschend über 19’000 Franken. M.K. ist erleichtert, begleicht ihre Schulden – bis der Anruf kommt: Irrtum. Ihr aktuelles Burnout sei nur ein Rückfall der früheren Depression, die Bezugsdauer sei ausgeschöpft. Das Geld müsse sie zurückzahlen. M.K. lacht. Woher soll sie 19'000 Franken nehmen? Die Krankentaggeldversicherung treibt das Geld bei M.K.s altem Arbeitgeber ein.
Sie hat plötzlich 19'000 Franken Schulden
Das Problem ist: Krankentaggeldversicherungen sehen für eine Krankheit eine Bezugsdauer von zwei Jahren vor. Im Fall von M.K. hat die Versicherung die Erschöpfungsdepression als Rückfall ihrer normalen Depression definiert, nicht als andere Krankheit. Nach abgelaufener Bezugsdauer wird die Person, falls sie weiterhin oder erneut nicht arbeitsfähig ist, zum IV-Fall. Der Weg zum IV-Geld bedeutet noch mehr Formulare. Der Behördenslalom, den Betroffene machen müssen, ist belastend. M.K. sagt, sie wurde dadurch noch kranker, als sie bereits ist.
Damit M.K. doch Geld erhält, muss sie trotz Krankschreibung zum Arbeitsvermittlungszentrum RAV. Eigentlich wäre sie 100 Prozent krankgeschrieben, doch damit sie RAV-Geld erhält, muss sie ihre Krankschreibung auf 80 Prozent ändern lassen. Dann muss sie Bewerbungen schreiben, ohne Jobs anzunehmen. Das ist gängige Praxis, eine andere Überbrückungsleistung bis zur IV gibt es nicht.
Doch M.K. erhält trotzdem kein Geld. Auf Nachfrage teilt ihr das Arbeitsamt mit, dass das obligatorische Lohnblatt der früheren Arbeitgeberin fehlt. M.K. schreibt ihrer alten Arbeitgeberin: «Da ich inzwischen seit Monaten kein Geld erhalten habe, bin ich nun auf den letzten 50 Franken. Weder die Miete noch die Krankenkasse sind bezahlt. Es ist inzwischen wirklich dringend!» Sie ist verzweifelt, muss sich Geld von ihrem Umfeld ausleihen. Sogar von den Eltern, mit denen sie eine Weile keinen Kontakt mehr hatte.
Die Arbeitgeberin antwortet ihr, dass sie das Lohnblatt nicht einreichen könne, weil M.K. ihr 19'000 Franken schulde: Es ist das Geld, dass die Versicherung M.K. fälschlicherweise überwiesen hat, das M.K. nicht zurückzahlen konnte und das die Versicherung dann bei der Arbeitgeberin einforderte. Deswegen ein Lohnblatt nicht einzureichen, ist aber offenbar unzulässig, das RAV droht der Arbeitgeberin mit einer Anzeige. M.K. ist vollends verwirrt und am Ende ihrer Kräfte.
Betroffene müssen für alles kämpfen
Fälle wie der von M.K. kämen selten vor, sagt Aurelia Jenny von der «Rechtsberatungsstelle UP für Unfallopfer und Patient:innen». Trotzdem: «Versicherte sind darauf angewiesen, dass im Sozialversicherungssystem alle involvierten Stellen reibungslos miteinander funktionieren.» Gesundheitlich labile Personen seien mit der Komplexität regelmässig überfordert. Wenn die Stellen Fehler machen, können Betroffene zwar klagen, aber Prozesse können Jahre dauern und sind teuer – eine Hürde, die viele Kranke nicht schaffen.
Um die Situation zu verbessern, müsste das schweizerische Sozialversicherungssystem vereinfacht werden, sagt Jenny. «Die Unterscheidung zwischen Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit führt in der Praxis oftmals zu Zuständigkeitsstreitigkeiten, die zu Lasten der Versicherten gehen.» Ausserdem seien die Prozesse und Verfahren schwerfällig und würden zu lange dauern.
Hilfe muss sich M.K. mühsam selbst suchen. «Entweder man hat Glück und ein Sozialdienst oder eine Psychiaterin weiss, welche Behörde wann zuständig ist, oder man ist verloren.» Es bräuchte eine Art Wikipedia der Schweizer Behörden, das alle Informationen zu den komplizierten Vorgängen sammelt und kantonale Beratungsangebote auflistet, findet M.K.
Die Leiterin einer psychiatrischen Klinik, in der M.K. stationiert war, kritisiert diese Praxis ebenfalls. Sie will nicht namentlich genannt werden, schickt aber eine lange Liste von Lösungsvorschlägen: Etwa eine Koordinationspflicht für Versicherer, automatische Übergänge zwischen den verschiedenen Dienstleistern, Unterstützung in Behördenfragen, ein Recht auf Schuldenerlass bei existenzbedrohender Lage, verlängerte Taggeld-Dauer für psychisch Erkrankte, staatliche oder durch einen Fonds finanzierte Rechtsbeihilfe.
M.K.s Kampf ist noch nicht vorbei. Sie erhält zwar mittlerweile Geld vom RAV, doch die 19'000 Franken schuldet sie ihrer Arbeitgeberin weiterhin. In einer Beratungsstelle erfährt sie, dass die Praxis der Versicherung, das falsch ausgezahlte Geld bei der Arbeitgeberin einzufordern, möglicherweise illegal ist. Um sie anzufechten, muss M.K. sich betreiben lassen, was für sie eine weitere psychische Belastung darstellt. Sie hofft auf einen baldigen IV-Entscheid. Damit würde sie zwar bedeutend weniger Geld erhalten als in ihrem alten Job. Aber von der IV verspricht sie sich eines: endlich Ruhe.
