Eigentlich sind die Fakten klar: Die Zufälle der Biologie führen dazu, dass einige Menschen weder männlich noch weiblich zur Welt kommen. Diese Erkenntnis ist weder politisch noch rechtlich, sondern rein biologisch. Anders verhält es sich mit der Frage, wie die Gesellschaft darauf reagiert.
In der Geschichte der modernen Gesellschaften wurden diese Fragen ignoriert. Religiöse und bürokratische Motive führten dazu, dass sich ein Mensch heute als «Mann» oder «Frau» identifizieren muss. Die Medizin beugte sich dieser Ideologie und misshandelte solche Menschen durch Zwangsoperationen. Solche dunkle Seiten der Geschichte mögen zwar der Vergangenheit angehören – andere Überbleibsel dieser Ideologie blieben jedoch bis heute: Intergeschlechtliche Menschen müssen sich auch im Jahr 2022 im Pass und bei den Behörden als «Mann» oder «Frau» identifizieren, auch wenn ihr Körper und ihre Seele es anders sehen.
Grund dafür ist für einmal nicht ein Gesetz oder eine Verordnung, welche nur ein «M» oder «F» im Personenstandsregister erlaubt, sondern – so lautet die Argumentation der Behörden – das Gewohnheitsrecht. Dieses könnte sich bald am Bundesgericht ändern.
Ausgelöst wurde der Gerichtsfall vom Bundesamt für Justiz, welches sich gegen die Öffnung der rechtlichen Geschlechterrealität wehrt: Die Bundesbehörde hat ein Urteil des Aargauer Obergerichts angefochten, das einer Person – wir nennen sie Julian P. – einen leeren Geschlechtseintrag erlauben wollte.
Die Konstellation erreichte 2022 eine überraschende Aktualität, weil in der Schweiz seit Anfang Jahr der Geschlechtseintrag vereinfacht geändert werden kann. Der Fall, der nun beim Bundesgericht mit der Dossiernummer 5A_391/2021 pendent ist, hat jedoch nichts damit zu tun: Er nahm schon früher seinen Lauf – ausgelöst vom Bundesverfassungsgericht in Deutschland. Dieses entschied 2017, dass die deutsche Rechtsordnung mit der abschliessenden Geschlechtsoption zwischen «männlich» und «weiblich» verfassungswidrig sei: «Die Benachteiligung ist nicht gerechtfertigt. Es gibt hierfür keinen tragfähigen Grund.»
Deutschland musste daraufhin die Gesetze ändern, wovon im April 2019 eine Person profitierte: Sie liess sich vom Standesamt in Berlin als nicht-binär eintragen. Über ein Jahr später hätte dies auch im eidgenössischen Personenstandsregister geändert werden sollen: Julian P. – dessen biologisches Geschlecht in öffentlichen Berichten unbekannt ist – verlangte dies aufgrund der schweizerischen Staatsbürgerschaft bei der Schweizer Botschaft in Berlin.
Solche Änderungen sind im internationalen Verkehr nichts Ungewöhnliches: Sie kommen etwa dann vor, wenn eine Schweizerin oder ein Schweizer im Ausland heiratet oder den Vornamen ändert. Und sie wären eigentlich Routinefälle, deren Verfahren im internationalen Privatrecht geregelt sind. Die einzige Regel dort ist: Der Name und das Geschlecht werden «nach den schweizerischen Grundsätzen über die Registerführung» in die Zivilstandsregister eingetragen.
Das Gesuch landete im Kanton Aargau, wo die in Deutschland lebhafte Person eingetragen war. Die zuständige Behörde verfügte daraufhin nach langem Hin und Her, dass der alte Geschlechtseintrag bleibt – übernommen wurde einzig der neue Vorname. Julian P. klagte vor dem Aargauer Obergericht und bekam im März 2021 überraschend Recht. Überraschend deshalb, weil Gender-Themen in der medialen Öffentlichkeit politisch aufgeladen debattiert werden und Gerichte in solchen Fällen üblicherweise Grundsatzentscheide vermeiden: Wenn etwas besonders umstritten und die Rechtslage unscharf ist, soll doch bitte das Parlament entscheiden.
Darauf verzichtete aber das Aargauer Obergericht. Es befasste sich detailliert mit der Frage, ob die Übernahme eines nicht-binären Geschlechtseintrags die «Ordre public» (öffentliche Ordnung) in der Schweiz verletzen würde. Dies sei etwa der Fall, wenn «das einheimische Rechtsgefühl durch die Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen Entscheids in unerträglicher Weise verletzt würde, weil dadurch grundlegende Vorschriften der schweizerischen Rechtsordnung missachtet werden».
Die Richterinnen und Richter entschieden, dass dies im vorliegenden Fall nicht zutrifft: Der Bundesrat, die Einwohnerkontrollen und das Bundesamt für Statistik seien offen für Veränderungen. Dies würde aufzeigen, dass «bei der strikt binären Geschlechterordnung nicht (mehr) von einem fundamentalen Rechtsgrundsatz die Rede sein kann». Ein leerer Geschlechtseintrag, so wie gefordert, sei deshalb weder mit «rechtlichen und ethischen Werturteilen» unvereinbar, noch führe dies zu einer «unerträglichen Verletzung des einheimischen Rechtsgefühls».
Das Bundesamt für Justiz zog das Urteil an das Bundesgericht weiter. Ob es dies deshalb tut, weil es das einheimische Rechtsgefühl verletzt sieht, verrät das Bundesamt nicht. Ein Mediensprecher teilt auf Anfrage lediglich mit, dass die «Rechtslage ungeklärt» sei und das Bundesgericht «für eine Klärung sorgen wird». Eine solche Klärung kann der Bund verlangen, da zivilrechtliche Fragen vom Bund geregelt werden: Fehlt ein einheitlicher Konsens darüber, ob pronomenlose Menschen das «einheimische Rechtsgefühl» verletzten, würde ein Flickenteppich drohen, wie es etwa in den USA der Fall ist.
Damit könnte sich das wiederholen, was in Deutschland und Österreich bereits passierte: dass der gesellschaftliche und politische Wandel von der Justiz entschieden wird. Die höchstrichterlichen Entscheide der Nachbarländer stützten sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und lösten damit Reformen des nationalen Rechts aus. Der Zürcher Anwalt Stephan Bernard, der Julian P. derzeit vertritt, sagt auf Anfrage: «Wir hoffen sehr und sind zuversichtlich, dass unser Rechtsstandpunkt bestätigt wird.»
Fraglich ist, ob dies auch in der Schweiz so passieren wird. Der Fall dürfte in den kommenden Wochen und Monaten von der zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts behandelt werden. Diese wollte in der Vergangenheit politisch aufgeladene Themen nicht von sich aus klären. 2015 verweigerte das Bundesgericht einem gleichgeschlechtlichen Paar, sich beide als Elternteile eines Kindes anerkennen zu lassen. Ihre Geschichte ist mit dem aktuellen Fall vergleichbar, da die Elternschaft mit zwei Vätern bereits im Ausland anerkannt worden war.
Auch ihr Vorhaben scheiterte an der Auslegung des Gewohnheitsrechts, wie es im Bundesgerichtsurteil zu lesen ist: «Die Anerkennung seiner amerikanischen Eintragung als Vater verstösst in grundlegender Weise gegen die rechtlichen und ethischen Werturteile in der Schweiz.» Die Richterinnen und Richter anerkannten zwar, dass dies nicht verboten sei, wenn man das Kind einer Leihmutterschaft als «Adoptivkind» betrachte. Für eine solche «Wertung» sei aber das Parlament und nicht das Bundesgericht zuständig.
Ich denke die Gesellschaft möchte, dass die Gerichte und Medien sich langsam wieder mit wichtigeren Themen beschäftigen als damit wie sich jemand fühlt und was in seinem Papierli steht.
Betrifft es Menschen in der Grössenordnung von 1‘000 oder eher 100‘000? Ich will niemanden marginalisieren, finde aber auch, dass der Aufwand gerechtfertigt sein muss.
Und wie ich die rosa Box am Artikelende verstehe, müsste es sich um Inter-Menschen handeln, oder? Menschen mit biologisch nicht absolut geklärtem Geschlecht.
Trans bedeutet doch die Diskrepanz zwischen biologischem Geschlecht und Selbstidentifikation.