Marianne* redet ohne Umschweife, Ausflüchte macht sie nicht. Ihre klaren Augen direkt auf das Gegenüber gerichtet, pinke Bomberjacke, blumiges Oberteil, Perlen am Handgelenk, erzählt die attraktive 56-Jährige ihre Geschichte. Es ist eine Geschichte von enttäuschter Liebe und missbrauchter Sehnsucht. Es ist aber auch die Geschichte von einer Frau, die sich wehrt.
Marianne legt ihr Handy auf den Cafétisch, scrollt über die Nachrichten, die sie und Morgan, den sie auf Tinder getroffen hat, ausgetauscht haben. Es sind hunderte. Manchmal lacht Marianne. Heute, ein paar Wochen danach, hat sie genug Distanz zu der Geschichte. Sie schämt sich nicht. Sie weiss, dass sie von einem Betrüger reingelegt wurde, und glücklicherweise hat sie es genug früh gemerkt. Jetzt will sie ihre Geschichte erzählen, um andere Frauen zu warnen.
Marianne: «Ich war das erste Mal auf Tinder, wischte durch die Profile. Das Foto von Morgan gefiel mir sofort. Unglaublich attraktiv, freundliches Gesicht, ein Kind umarmt seinen Hals. ‹Toll›, dachte ich. Ich habe ja auch drei Kinder. Die Distanz zeigte weit mehr, als ich auf Tinder eingestellt hatte, England stand unter seinem Profil, und er sah weit jünger aus, als ich bin. ‹Egal›, ich wischte nach rechts. Wir matchten.»
Die Masche von Betrügern, die auf Partner-Börsen, auch Tinder, ihre Opfer suchen, ist immer die gleiche. Marianne hat sie in sieben Phasen eingeteilt: Anbinden, von der grossen Liebe reden, auschecken und bei Stange halten, vertrösten und Problem erwähnen, nach Geld fragen, emotional erpressen, drohen.
«Wir verstanden uns auf Anhieb sehr gut. Er schmeichelte mir. Obwohl er 14 Jahre jünger war, sagte er mir, Alter sei kein Thema für ihn. Er sei aus Manchester in England, wo er studiert habe. Nun arbeite er für eine Ölfirma und sei geschäftlich aber gerade in Ohio. Er kümmere sich alleine um die 7-jährige Tochter, ihre Mutter sei an einer Krankheit gestorben. Ich war gerührt. Bald fragte er mich, ob wir nicht auf Whatsapp weiterchatten wollen. Ich gefalle ihm so sehr, er wolle Tinder löschen. Und er verlangte dasselbe von mir. Er habe Angst, dass ihm jemand zuvorkomme.»
Marianne ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Morgans Tinder-Profil ein Fake ist und die Nummer, auf die sie gelockt wurde, von einer Person betreut wird, die vermutlich mit dutzenden Menschen parallel chattet. Die Handynummer erscheint bei der Google-Suche auf einer britischen Scam-Website. Marianne ist zwar misstrauisch, aber sie googelt die Nummer nicht. Ihre Zweifel wischt Morgan mit den richtigen Worten weg.
«Es verging fast keine Stunde mehr, in der wir nicht miteinander chatteten. Er schenkte mir unglaublich viel Aufmerksamkeit, wenn ich aufstand, hatte ich bereits eine Nachricht von ihm, nie ging ich ohne eine ins Bett. Er fand immer die richtigen Worte, umwarb mich, schmeichelte mir. Baby, ich denke an dich. Honey, wie war dein Tag? Nach drei Tagen telefonierten wir zum ersten Mal. Seine Stimme passt nicht zu seinem Foto, dachte ich mir. Doch ich mochte ihren Klang. Er fragte mich, ob ich gerne Hiphop höre. Mit 56, haha!»
«Ja ja, dachte ich manchmal. Red' du nur! Aber genau solche Worte wünscht man sich doch eigentlich. Sonst redet ja nie jemand so mit einem. Dass er so rasch von Liebe redete, überrumpelte mich zwar, doch es schmeichelte mir auch sehr. Er schickte mir Fotos, heute sehe ich, dass manche nicht zusammenpassen, dass die Qualität oft sehr schlecht ist. Aber damals wollte ich das nicht sehen.»
Beratungsseiten für Opfer (zum Beispiel lilli.ch) warnen, Betrüger würden sich von echten Männern darin unterscheiden, dass sie sehr rasch von der grossen Liebe reden. Auch sonst ist einiges über die Masche sogenannter Romance Scammer bekannt. Sie geben sich als Ingenieure, Architekten, Konstrukteure in der Ölindustrie oder Computerspezialisten aus. Auf den Fotos des Profils ist eine attraktive weisse Person präsentiert – doch die Bilder sind zusammengeklaut, man geht davon aus, dass die Chatter in Westafrika sitzen. Nigeria Connection nennt man die Netzwerke der Romance Scammer. Zahlen dazu, wie viele es gibt, gibt es nur wenige. In Deutschland werden jährlich 8000 Scams gemeldet.
Marianne sagt heute, bei neun von zehn Männern, die ihr auf Tinder vorgeschlagen werden, handle es sich um Fakes.
«Immer wieder schickte er mir Bilder von seiner Tochter, sagte mir, er wolle mich besuchen, sobald er zurück in Manchester sei. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits total brainwashed, er bombardierte mich mit SMS, ich war ständig damit beschäftigt mit ihm zu reden. In meinem Büro hingen bereits Bilder von ihm und seiner Tochter. Ja, es gab immer wieder Momente, in denen ich zweifelte. Er hatte mir mal gesagt, wann seine Tochter Geburtstag hat. Als ich ihn ein zweites Mal danach fragte, nannte er mir ein anderes Datum. Und als ich ihm mal von meinen Ferien in Kuba erzählte, fragte er, wo Kuba ist. ‹Wie kann ein gebildeter Mann nicht wissen, wo Kuba ist?›, dachte ich mir. Solche Details machten mich misstrauisch. Aber er schaffte es immer wieder, mich rumzukriegen. Als ich ihn beispielsweise mal fragte, ob er mir ein Selfie von ihm bei der Arbeit schicke, hatte ich nach einer halben Stunde ein Foto. Im Hintergrund der Himmel, auf dem Kopf ein Bauhelm. Für alles gab es eine Erklärung, für alles ein Foto.»
Während die Romance Scammer Süssholz raspeln und ihre Opfer um den Finger wickeln, checken sie sie schon früh aus: Sind sie wohlhabend? Grosszügig? Sie fragen nach Fotos des Hauses, des Autos, des Gartens, nach der Position innerhalb der Firma. Zudem lassen sie immer wieder durchsickern, dass sie keine Familie mehr haben, oder sonst jemanden, der ihnen nahesteht. Deshalb sind sie ja auch bereit, angeblich ihr Land für ihre grosse Liebe zu verlassen.
«Ich zweifelte immer wieder. Ich sprach ihn auch nie mit Morgan an und sagte ihm auch immer wieder, dass ich ihm nicht alles glaube. Aber solange er mich nicht nach Geld fragen würde, ist alles okay, sagte ich mir. Er solle mich nur mal besuchen, dann sähen wir ja, was stimme und was nicht. Doch das mit dem Besuch zog sich hin. Und er erwähnte plötzlich, dass ein Problem aufgetaucht sei. Meine Alarmglocken klingelten.»
«Es ging um ein Problem mit seinen selber gekauften Maschinen, ich habe es gar nicht so richtig verstanden. Ich ging auf jeden Fall nicht darauf ein. Doch das klappte nicht wirklich, er warf mir vor, mich nicht für ihn zu interessieren, erwähnte das Problem immer wieder. In schwachen Minuten kriegte ich ein schlechtes Gewissen. Meistens aber sagte ich mir: Das stinkt zum Himmel.»
Schwierigkeiten tauchen auf – typisch für Romance Scams. Manchmal sind es verlorene Pässe, gestohlene Portemonnaies oder Probleme mit dem Gepäck. Die Betrüger geben vor, nicht reisen zu können. Wenn ihnen die Opfer nicht von sich aus Geld anbieten, fragen sie danach, oft direkt, manchmal auch erst, nachdem sie vermeintlich andere Lösungen gefunden haben.
«Spätestens jetzt klickte es bei mir. Er hatte das Problem mehrmals erwähnt, mich zunächst gefragt, ob ein Freund mir Geld überweisen könne, das ich ihm dann zurück überweise, was ich nicht tat, dann fing er an, expliziter zu werden.»
«Ich wollte ihn entlarven, bot ihm an, ihm jeden Monat 300 dafür zu überweisen, dass er mit mir chatte, doch darauf ging er nicht ein. Er sei verliebt, er wolle kein Geld fürs Chatten, er brauche nur Hilfe. Clever. Aber ich war bereits aus dem Traum aufgewacht.»
Durchschnittlich verlangen Romance Scammer 10'000 Franken und bitten ihre Chatpartner, diese zu überweisen. Wenn sie Erfolg haben, bleibt es selten bei diesem Betrag. Neue Schwierigkeiten kommen dazu, wieder ist etwas Geld nötig. Bei grosser Verzweiflung drücken sie den Preis für die Liebe: Irgendwann verlangt Mariannes Scammer nur noch 3000 von ihr.
«Er fragte immer vehementer nach Geld, verzweifelt, irgendwann war ihm jeder Betrag recht. Ich ging nicht darauf ein. Irgendwie tat er mir sogar leid. Der sitzt wahrscheinlich 20 Stunden pro Tag vor dem Computer, um mir und wohl noch dutzenden Anderen Honig um den Mund zu schmieren, nach Geld zu betteln. Das ist doch schrecklich. Er wechselte immer wieder zwischen Betteln, Entschuldigungen und emotionalen Erpressungen. Ich sei kalt, er würde mir nie Hilfe verweigern und so weiter. Ich sagte ihm, ich wisse, was hier los sei, doch er liess sich nicht beirren.»
Scamming ist im Schweizer Strafrecht Betrug nach Art. 146 StGB. Betrug ist die unrechtmässige Bereicherung durch die Vorspiegelung falscher Tatsachen, Unterdrückung von Informationen und/oder die arglistige Irreführung. Das ist ein Vermögensdelikt. Das Schweizer Strafrecht sieht dafür Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren oder Geldstrafen vor. Doch die meisten Opfer verzichten. Die Scham ist gross und die Aussichten auf eine Genugtuung gering.
«Das war das Äusserste. Nach etwa fünf Wochen drohte er mir, sich umzubringen, wenn ich ihm nicht helfe. Ich beschloss, ihn zu blockieren, tat es dann aber doch nicht. Irgendwie wollte ich ihn noch ein bisschen bei Stange halten, schauen, was sonst noch passiert. Manchmal verlor er die Geduld, schrieb weniger. Manchmal kam er aber wieder, sagte, es tue ihm alles leid. Zugegeben: Auch wenn ich mittlerweile Distanz dazu habe – ganz loslassen kann ich noch nicht. Es wird wohl noch etwas Zeit brauchen, alles zu verarbeiten.»
*Name geändert.
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