Ich führe derzeit drei Liebesbeziehungen, habe eine Affäre und mache gerade eine fiese Trennung durch. Das klingt stressig? Unehrlich? Ist es auch ein bisschen. Aber nicht, weshalb man jetzt denken mag.
Diese Beziehungen sind nicht alles meine eigenen – einige involvierte Personen kenn ich nicht mal persönlich. Aber sie sind alle auf meinem Smartphone. Sie sind meine ganz persönlichen Reality-Shows.
Ich weiss, wer von den Protagonisten bei der Rechtschreibung in der Schule gepennt hat, warum gerade gestritten wird oder dass der Sex toll war, sie aber Angst hat, er könnte es nicht ernst meinen. Das weiss ich, weil meine Freundinnen – es scheint vorwiegend ein Frauending zu sein – mit den Handys Screenshots ihrer digitalen Konversationen machen und mir die Chats brühwarm, eins zu eins schicken.
Warum man das tut? Na ja, man will Rat, seine Freude teilen, nicht alleine lachen, nicht alleine traurig sein. Meistens sind die als Foto gespeicherten Dialoge der neumodische, digitale Ersatz für den altmodischen, analogen Kaffeeklatsch.
Thema der Handy-Beratung sind meist neue Bekanntschaften, die man noch nicht einschätzen kann, bei denen man sich aber genau deswegen umso adäquater verhalten möchte. Was meint er? Was will er eigentlich?
Was wir vorher der besten Freundin über unseren «Partner» mündlich und nur halb so detailgetreu erzählten, funktioniert heute schnell und einfach. Wort für Wort. Bereit zur Analyse. Lebensberatung via WhatsApp – vereinfacht durch Bildschirmfotos.
Der gute alte Print-Screen, den wir von PC-Problemen aus den 2000er-Jahren kennen, erlebt als Problemlösungswerkzeug ein Revival auf unseren Mobiltelefonen.
Seit jeder ein Smartphone besitzt (95 Prozent der Schweizer Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren haben bereits eines) und spätestens seit WhatsApp gross ist (gilt als der am schnellsten wachsende Internetdienst der Geschichte, derzeit 800 Millionen aktive Nutzer), schreiben wir ständig. Und «screenshotten».
Das geht ganz schnell: Man drückt gleichzeitig zwei Knöpfe, es ertönt das einstige Fotoapparat-Geräusch, das Display wird eingefroren. Dann wird der Screenshot der Lieben weitergeleitet, und schwupp hat jemand drittes den Chat. Schwarz auf Weiss. Ungeschönt.
Von Chats, Briefen oder Gesprächen erzählt haben wir schon immer. Neu ist die Geschwindigkeit, mit der das auf einer visuellen Ebene geschieht: «Via WhatsApp kann man schriftliche Diskussionen parallel führen», sagt Karina Frick, die an der Universität Zürich zum Thema Kommunikation in SMS und WhatsApp forscht.
Nicht selten chattet man simultan mit der «Bekanntschaft» und der besten Freundin. Da muss es «tifig» gehen – tippen, wischen und drücken. Es ist sozusagen ein (Telefon-)Dreier. Nur weiss eine Person nichts davon.
Heute kommuniziere man häufiger schriftlich als früher und nehme sich für die Konversationen weniger Zeit. Screenshots zu schicken, ist laut Frick eine logische Entwicklung. Schliesslich müsse man je nach Anzahl geführter Chats Abstriche machen und könne nicht mehr zu ausführlich «schreiben».
Wir – insbesondere Frauen – sind bei der digitalen schnelllebigen Kommunikation oft zu genau und interpretieren Nachrichten je nach Gemütszustand.
Was jemand und wie jemand schreibt, sagt einiges aus. Und vor allem was er eben nicht schreibt (auf das wir aber ständig warten). Jedes Wort, jedes Komma wird analysiert. Ein ganz normales «ok» wird von der eigentlichen Bedeutung «das passt, bin aber kurz angebunden, da keine Zeit» plötzlich zum «er ist abweisend oder er interessiert sich nicht».
Dass wir ständig online sind, ständig kommunizieren, hat auch negative Folgen. Früher, in der Kutschenzeit, wartete man tagelang auf Briefe oder auf den Liebsten persönlich. Da war manch kleiner Ärger bis zum nächsten Treffen längst wieder verpufft.
Heute, im Handyzeitalter, macht man seinem Unmut unmittelbar Luft. Bombardiert. Wirft vor. Genau deshalb muss der Freundeskreis her. Als Lesezirkel. Als Jury. Jemand, der einen kennt, die Situation aber von aussen analysiert. So werden wir alle zu Hobbypsychologen und digitalen Liebestherapeuten.
Meine Freundin Lisa, die in Wirklichkeit anders heisst, ist ein richtiger «Screenshotting-Junkie». Ich schlichte etwa beim Streit mit einer Freundin – meist ebenfalls via Chat. So lese ich die erhaltenen Dialoge, mache ich eine Fallanalyse und zeige ihr dann auf, was sie vor lauter Wut nicht mehr sieht: «Du hast recht, aber bisschen den falschen Ton gewählt. Du musst nicht fies werden. Schreib nochmals kurz deinen Standpunkt und entschuldige dich für die fiesen Worte.» Das klappt meist.
Meistens geht es aber um Männer. Wie letztens. Das war eine Soap vom Feinsten. Typ kennen gelernt. Viel Hin-und-her-Geschreibe. Treffen. Chat. Küssen. Chat. Sex. Seine Signale wurden immer schwächer. Funkstille. Ich war nicht die Protagonistin und trotzdem sehr aufgeregt, denn ich war Mäuschen in der digitalen Liaison meiner Freundin.
Wenn ich ihr meinen Senf vom Sofa oder vom Zugsitz aus schicke und auf ein Update via Screenshot warte, leide ich mit. Die Seifenoper geht ja täglich weiter. Immer Neues. Die Pausen sind wie Cliffhanger. Wird der Chat auf dem Höhepunkt unterbrochen, ist die Spannung fast unaushaltbar: «Mann antworte endlich, WIR warten!»
In diesem Fall verharrte das Telefon still. Ich musste ganze A4-Seiten Chat-Protokolle deuten. Nach einer Inhaltsanalyse des Datensatzes kam ich zum Schluss: Der Typ steht einfach nicht auf sie. Das habe ich ihr sanft erklärt. Bald darauf war sie therapiert und der Typ Chat von gestern.
Manchmal frage ich mich, ob ein paar Chat-Auszüge repräsentativ sind und ich überhaupt befugt bin? Schliesslich habe ich weder ein Paartherapeuten- noch ein Kommunikationspsychologendiplom. Aber immerhin ein paar Beziehungs-, und Flirt-Chats als Vergleich.
Lisa schicke auch ich ab und an Protokolle. Dann, wenn eine Botschaft zu schade ist für mich allein. Etwa ein überragend schöner Satz von meinem Freund (Sorry an dieser Stelle!) oder ein Lob des Chefs (Auch Sorry an dieser Stelle!).
Dieser Handy-Voyeurismus macht Spass. Gleichzeitig ist er ein wenig heuchlerisch. Wir haben Angst vor Überwachung, fordern mehr Schutz für unsere Daten im Netz und gleichzeitig schicken wir die intimsten Sätze unserer Liebsten in der Gegend rum.
WhatsApp-Expertin Frick nennt das einen «Verstoss gegen die Netiquette» – darunter versteht man das respektvolle Benehmen in der elektronischen Kommunikation. Schliesslich gehe man ja beim Schreiben davon aus, dass es nur an den Adressaten gehe. An dieser Stelle mit dem Briefgeheimnis zu kommen mag vielleicht etwas Retro sein, aber ganz fair scheint mir die Schickerei nicht.
Doch dieses Phänomen gibt's noch heftiger. Manchmal geht es über das Beraten hinaus, manchmal, da fungiert man als Autorin. Wir lesen nicht nur mit, nein, wir unsichtbaren Liebesflüsterer schreiben auch Antworten. Die mit Copy and Paste weitergeschickt werden können. Wir sind Ghostwriter der Liebe.
Und so führe ich derzeit drei Liebesbeziehungen, habe eine Affäre und mache gerade eine fiese Trennung durch.