Die Kritik ist nicht neu. Seit Jahren ärgern sich Passagiere über die Haltung der Swiss und anderer Airlines, wenn es um ihnen zustehende Rückerstattungen und Kompensationszahlungen geht. Frühere Berichterstattungen dazu zeigen, dass es regelmässig Fälle gibt, bei denen Passagiere immer wieder vertröstet oder sogar abgewimmelt werden. Das Problem aus Konsumentensicht: Hierzulande müssen Fluggäste von sich aus für ihr Geld kämpfen. Melden sie sich nicht, bleibt das Geld oft bei der Airline.
«Das Einfordern der Rückerstattungen braucht Geduld und Hartnäckigkeit und klappt am Ende oft doch nicht, auch bei der Swiss nicht», sagt Livia Kunz, Rechtsleiterin bei der Stiftung für Konsumentenschutz.
In den USA ist das neuerdings anders. Dort hat die Regierung von Joe Biden Passagieren ein Abschiedsgeschenk hinterlassen. In mehreren Social-Media-Beiträgen hat Bidens Transportminister Pete Buttigieg in den vergangenen Wochen, noch vor dem Ende der Biden-Regierung, die Öffentlichkeit über die angeblichen Verbesserung aus Kundensicht informiert.
Gemäss der neuen US-Regel müssen seit Oktober Airlines automatisch Rückerstattungen durchführen, wenn der Flug mehr als 3 Stunden bei einem nationalen, oder mehr als 6 Stunden bei einem internationalen Ziel verspätet ist. Das Geld muss innert 20 Tagen ausbezahlt werden, also nicht in Form von Fluggutscheinen. Und falls der Koffer mit grosser Verzögerung ankommt, muss die Airline allfällige Gepäckgebühren zurückbezahlen.
«Wenn Ihr Flug abgesagt wurde, möchten Sie sich nicht auch noch um die Rückerstattung kümmern», sagt Buttigieg in einem Instagram-Video. «Und nun müssen Sie das auch nicht mehr.» Das sei ein riesiger Schritt dahingehend, Flugreisen «fairer und weniger stressig» zu machen.
Bidens und Buttigiegs Offensive bekommt auch die Swiss zu spüren: «Seit Inkrafttreten der Regelung sind die Erstattungszahlungen für Flüge von oder in die USA gestiegen», sagt Swiss-Sprecherin Meike Fuhlrott. Konkrete Zahlen will die Airline keine nennen. Es betreffe in erster Linie Buchungen, die direkt bei der Airline getätigt wurden. Bei Buchungen über Reisebüros liege die Verantwortung für die Erstattung jeweils beim jeweiligen Anbieter.
«Die neue Regelung in den USA erfordert Anpassungen unserer Erstattungsprozesse», sagt Fuhlrott. Gemeinsam mit der Airline-Vereinigung Iata und den anderen Fluggesellschaften der Lufthansa-Gruppe arbeite man an einheitlichen und praktikablen Lösungen.
Eine solche Regelung im US-Stil wünscht sich Konsumentenschützerin Kunz auch für Passagiere aus der Schweiz: «Eine automatische Rückerstattung wäre ganz klar im Sinne der Konsumentinnen und Konsumenten.» Nur: «Wir kämpfen hier in der Schweiz noch darum, dass überhaupt eine Entschädigung erfolgt.»
Kunz verweist auf die Fluggastrechteverordnung der EU, die in der Schweiz heute gilt. Sie regelt, welche Unterstützungs- und Entschädigungsleistungen Fluggesellschaften gegenüber Passagieren zu erbringen haben. Grundsätzlich entschädigungspflichtig sind grosse Flugverspätungen, Flug-Annullierungen, verpasste Anschlussflüge und Überbuchung. Dabei werden je nach Flugdistanz Entschädigungen von 250 bis 600 Euro pro Passagier fällig. Keine Entschädigung gibt es, wenn die Airline für die Flugabsage nicht verantwortlich ist, wie zum Beispiel bei Wetterstörungen, einem Vogelschlag oder Streiks von Fluglotsen.
Bei annullierten Flügen sei der Entschädigungsanspruch aufgrund der EU-Regeln klar, sagt Kunz. Doch im Fall von Verspätungen werde er von Schweizer Airlines immer wieder bestritten. Dass die Durchsetzung funktioniere und die Rückzahlung in einem zeitlich akzeptablen Rahmen durchgeführt werde, müsse das Mindeste sein, sagt Kunz. «Damit wäre den Fluggästen schon viel geholfen.» Von einer automatischen Rückerstattung sei man hierzulande aber leider noch weit entfernt.
Und käme für die Swiss eine solche US-Handhabung infrage? «Die dafür notwendige Automatisierung würde deutlich umfangreichere Datenverarbeitungsprozesse als bisher erfordern», sagt Fuhlrott. Dies sei mit Blick auf die Themen Datenschutz sowie Speicherung und Verarbeitung von Zahlungsdaten sehr anspruchsvoll. «Auch käme es zu Einschränkungen bei der Wahl zwischen Erstattung und Umbuchung, was den individuellen Bedürfnissen der Passagiere in vielen Fällen nicht gerecht würde.»
Diese individuellen Bedürfnisse der Passagiere sind aber bereits heute nicht erfüllt. Dies legt die Anzeige-Statistik des Bundesamtes für Zivilluftfahrt (Bazl) nahe. Das Amt agiert hierzulande als Durchsetzungsbehörde für die Fluggastrechteverordnung. Laut Bazl-Sprecher Christian Schubert haben die Anzeigen gegenüber Airlines in den letzten Jahren zugenommen – und 2024 mit 7600 Anzeigen ein Rekordhoch erreicht. Zum Vergleich: 2018, vor der Pandemie, waren es 400 Anzeigen weniger.
Laut Schubert beziehen sich die Anzeigen hauptsächlich auf Forderungen für ausbleibende Kompensationszahlungen. Rückerstattungen für stornierte Flüge würden derweil «recht gut» funktionieren. Das US-Konzept mit der automatischen Rückerstattung beurteilt das Amt aber wie die Swiss ablehnend: «In vielen Situationen will der Passagier von der Fluggesellschaft rasch und vor allem kostenfrei auf einen Alternativflug umgebucht werden», sagt Schubert. Das Interesse an einer automatisierten Erstattung sei in einem solchen Fall nicht vorhanden.
Und wie erklärt sich das Bazl die deutliche Steigerung bei den Anzeigen, obwohl die Pandemie vorbei ist? Heute würden wieder etwa gleich viele Passagiere wie vor der Coronakrise fliegen, sagt Schubert. Zudem würden der Mangel an Fluglotsen, politisch bedingte Einschränkungen im Flugverkehr, starke Gewitter und Stürme sowie technische IT-Ausfälle zur Steigerung beitragen. Sprich: Je mehr Turbulenzen im System, desto mehr Kompensationsforderungen.
Die Passagiere, die eine Anzeige einreichen, müssen sich derweil oft gedulden. Die Dauer des dadurch eingeleiteten Verwaltungsstrafverfahrens gestalte sich je nach Fall unterschiedlich, sagt Schubert. Er verweist auf die teilweise schwierige Recherche, wenn zum Beispiel die Anzeige eine Airline betrifft, die nur saisonal in die Schweiz fliegt und über keine hiesige Adresse verfüge. Dann sei ein Verfahren oft nicht möglich.
Diese teils komplexen Situationen und das teils sture Verhalten der Airlines geben Firmen wie Airhelp.com, Cancelled.ch oder Flightright.de Auftrieb. Sie übernehmen für die Passagiere die juristische Kommunikation mit den Fluggesellschaften für Rückerstattungs- und Kompensationsforderungen – und streichen im Erfolgsfall eine ordentliche Kommission ein.
Die Swiss gibt sich derweil bedeckt: Wie sich die Rückerstattungen entwickeln, wie viele Forderungen von solchen Drittfirmen eintreffen und wie viele Zahlungen von der Airline automatisch ausbezahlt werden, will sie auf Anfrage nicht sagen.