Die Nachricht aus Brüssel war von den Kosovaren jahrelang herbeigesehnt worden: So bald wie möglich sollen sie für Besuche, Ferien oder Geschäftsreisen bis 90 Tage visumsfrei in die Schengen-Staaten und damit in die Schweiz reisen können. Das meldete die EU-Kommission vor einer Woche (siehe Infobox). Abgesehen von Russland, der Ukraine sowie der Türkei, für die die Visumspflicht ebenfalls fallen soll, ist der Kosovo das letzte europäische Land, für dessen Bürger noch die Visumspflicht herrscht. Selbst die Moldawier dürfen seit 2014 frei in die Schengen-Länder einreisen.
Der Jubel der Kosovaren war gross. Faton Topalli ist kosovarisch-schweizerischer Doppelbürger, lebt in der Schweiz und sitzt für die Opposition im kosovarischen Parlament. Dort verschaffen er und seine Kollegen ihrem Unmut über die Regierung auch mal mit Tränengas Luft. Doch für einmal feierte Topalli Seite an Seite mit den regierenden Clans. «Ich freue mich sehr darauf, wenn mich meine Mutter nun jederzeit besuchen darf», sagt er der «Nordwestschweiz». «Sie und meine Schwestern können sich dann auch mal kurzfristig für eine Reise entscheiden, ohne sich Wochen vorher um Visa bemühen zu müssen.»
Topalli sieht einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Lebensqualität in seinem isolierten Land. Und wirtschaftliche Vorteile. «Die Menschen werden einfacher Geschäftsreisen unternehmen können, neue Ideen sammeln, Geschäftsbeziehungen schaffen und pflegen sowie kulturelle Kontakte knüpfen.»
Auch Marigone Drevinja atmet auf. «Das Verfahren, bis man ein Visum bekommt, ist demütigend», sagt sie. Marigone Drevinja hat sechs Jahre ihres Lebens in der Schweiz verbracht. 2001 kehrte sie mit ihren Eltern und dem Bruder freiwillig in den Kosovo zurück. 2004 wollte die Familie ein erstes Mal zurück in die Schweiz, um Verwandte und Freunde zu besuchen. «Meinem Vater wurde das Visum verweigert. Die Schweizer Behörden befürchteten, wir würden nicht mehr in den Kosovo zurückkehren», erinnert sie sich.
Heute müssen sich Kosovaren drei Monate vor der geplanten Reise um einen Termin auf der Schweizer Botschaft kümmern. Bis zum Gang auf die Botschaft muss eine Liste von Dokumenten bereit sein. Marigone Drevinja zählt auf: «Man benötigt eine Einladung von jemandem mit Schweizer oder EU-Staatsangehörigkeit sowie Kontoauszüge zum Nachweis, dass man über genügend finanzielle Mittel verfügt.» Pro Gesuch werden 60 Euro fällig. «Nach dem Einreichen wartet man eine Woche auf den Entscheid», so Marigone Drevinja.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) nennt Zahlen: Von fast 25'000 Visagesuchen im Jahr 2015 wurde rund jedes vierte abgelehnt. Ähnlich ist die Ablehnungsquote in diesem Jahr. Hinter Indien, China, Russland und Thailand belegte Kosovo im letzten Jahr den fünften Platz, was die Zahl der Visagesuche an die Schweiz betrifft.
Trotz der administrativen Hürden, die nun mit der Visabefreiung wegfallen – bei der Kosovarin Marigone Drevinja will keine Euphorie aufkommen. «Mit welchem Geld sollen wir denn reisen bei der extremen Armut und Arbeitslosigkeit, die in meinem Land herrschen?», fragt sie. Auf die Stimmung vieler Kosovaren drückt auch die Vorgabe der EU, wonach Kosovo dem Nachbarland Montenegro 10'000 Hektaren Land abtreten muss. Ansonsten tritt die Visafreiheit nicht in Kraft.
Auch wenn die Kosovaren schon bald ohne Visum mit dem Flieger in Zürich landen – unkontrolliert kommen sie nicht an den Grenzwächtern vorbei. Sie brauchen einen biometrischen Pass und müssen an der Schengengrenze eine Versicherung und genügend finanzielle Mittel für die Rückreise nachweisen.
Gar nichts abgewinnen an der neuen Regelung kann die SVP. Dem SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz zeigen die Pläne der EU-Kommission «exemplarisch die Problematik der automatischen Rechtsübernahme». Weil die Schweiz bei Schengen dabei sei, werde sie durch den EU-Entscheid zum Nachvollzug und damit zur Aufhebung der Visapflicht gezwungen. Für Amstutz ist klar: «Die Schweiz mit ihrem hohen Wohlstand, den grosszügigen Sozialwerken und der grossen kosovarischen Bevölkerung, zieht Landsleute aus dem Kosovo an.»