Schweiz
Migration

Weniger als ein Drittel der Rückführungen gelingt: Asylsuchenden tauchen unter

Weniger als ein Drittel der Rückführungen gelang: Asylsuchende tauchten unter

Seit die Schweiz beim Dublin-System mitmacht, wollte sie mehr als 100'000 Asylsuchende in ein EU-Land schicken. Obwohl das nur bei 30'000 Personen gelang, spricht der Bund von einer Erfolgsgeschichte.
11.01.2019, 05:2211.01.2019, 05:43
Kari Kälin / CH Media
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Mario Gattiker, der Direktor des Staatssekretariats für Migration (SEM), hat es in diversen Interviews immer wieder betont: Das Dublin-System funktioniere zwar nicht perfekt, doch kein anderes Land profitiere stärker davon als die Schweiz. Die Dublin-Regeln besagen, dass jener EU-Staat für ein Asylgesuch zuständig ist, in den ein Schutzsuchender zuerst einreist (siehe Text Box weiter unten).

Der tunesische Asylbewerber Saidi Mohsen schaut aus dem Fenster der ehemaligen Kaserne in Losone, fotografiert waehrend eines Medienrundgangs am Freitag, 30. Januar 2015. Das Bundeszentrum fuer Asylsu ...
Ein tunesischer Asylbewerber in Losone.Bild: KEYSTONE/TI-PRESS

Die Schweiz macht seit Dezember 2008, seit etwas mehr als zehn Jahren also, beim Dublin-System mit. Bis Ende 2018 stellte sie für knapp 105'000 Asylsuchende ein Übernahmegesuch an einen anderen Staat. In knapp 70'000 Fällen akzeptierten die angefragten Staaten ihre Zuständigkeit. Effektiv überstellt in ein anderes Dublin-Land wurden aber nur knapp 30'000 Asylsuchende.

Gleichwohl zieht der Bundesrat ein positives Fazit. Im Jahr 2015 zum Beispiel hielt er in der Antwort auf einen parlamentarischen Vorstoss fest, kein anderes Land habe so viele Dublin-Fälle in ein anderes Land überstellt wie die Schweiz.

Kann man wirklich von einem Erfolg sprechen, wenn die Schweiz weniger als jeden dritten Dublin-Fall erfolgreich einem anderen Land übergeben konnte? SEM-Sprecher Daniel Bach sagt dazu: «Viele Asylsuchende, die in einen anderen Dublin-Staat zurückkehren müssten, reisen unkontrolliert ab und versuchen ihr Glück in einem anderen Land.» Das bedeutet: Die meisten Dublin-Fälle tauchen unter. Sie verschwinden so aus der Statistik, und die Schweiz ist nicht mehr für sie verantwortlich.

186 Asylsuchende kamen mit dem Flugzeug

Die Schweiz gehört zu den Profiteuren des Dublin-Systems. Sie überstellt viel mehr Dublin-Fälle in andere Länder, als sie von anderen Ländern aufnehmen muss. Würden die Dublin-Regeln indes strikt umgesetzt, müssten praktisch alle Asylgesuche in Staaten an der EU-Aussengrenze eingehen.

Theoretisch wäre die Schweiz also fast nur zuständig für jene wenigen Asylsuchenden, die mit dem Flugzeug einreisen. Im letzten Jahr waren das nur gerade 186.

Wer über den Landweg in die Schweiz gelangt, sei es über die Balkan- oder Mittelmeerroute, war vorher gezwungenermassen in einem sicheren Drittstaat unterwegs.

Eine Voraussetzung für das Funktionieren des Dublin-Systems ist die Registrierung in der Datenbank Eurodac. Die Fingerabdrücke von Personen, die illegal nach Europa gelangen, werden dort gespeichert.

Obwohl Italien in den letzten Jahren Fortschritte gemacht hat, werden faktisch längst nicht alle Asylsuchenden in ihrem EU-Ankunftsland registriert.

Das hat Auswirkungen auf das Dublin-System. SEM-Sprecher Daniel Bach sagt: «Personen, die unregistriert weiterreisen und in einem anderen Land einen Asylantrag stellen, können nur unter bestimmten Bedingungen ins Einreiseland rücküberstellt werden. Etwa, wenn man einen mehrmonatigen, illegalen Aufenthalt in diesem Land nachweisen kann.»

Angesichts der Flüchtlingswelle vom Jahr 2015 wollte die Europäische Union neue Regeln einführen, um ihre Aussenstaaten zu entlasten. Die Bemühungen um eine faire Verteilung von Asylsuchenden scheiterten aber bis jetzt an der Uneinigkeit innerhalb der EU.

Deutschland stellt viele Übernahmegesuche

In der Schweiz zeichnet sich bei den Dublin-Fällen derweil eine Trendwende ab. Im letzten Jahr stellten EU-Staaten 6575 Gesuche um Übernahme von Asylsuchenden an die Schweiz. Diese richtete ihrerseits 6810 Gesuche an EU-Staaten. Erstmals liegen diese Zahlen da- mit fast gleich hoch. Ein Grund für die Entwicklung ist die sinkende Zahl der Asylgesuche in der Schweiz. Bis Ende November baten hierzulande 14'230 Personen um Schutz, ähnlich wenige waren es letztmals 2010.

Zum anderen hat Deutschland seine Asylbürokratie wieder in den Griff bekommen. 2015 verzeichnete unser Nachbarland 2015 fast eine halbe Million und im Jahr darauf fast 750'000 Asylgesuche.

Unterdessen ist diese Zahl markant gesunken – und die deutschen Asylbehörden schaffen es wieder vermehrt, rechtzeitig Gesuche um die Übernahme von Dublin-Fällen zu stellen. Das spürt auch die Schweiz. Ein Drittel der Dublin-Gesuche (2208) bis Ende November dieses Jahres stammt aus Deutschland. Am zweithäufigsten (1752) klopfte Frankreich beim SEM an. Die Schweiz ihrerseits richtet nach wie vor die meisten Dublin-Gesuche an Italien.

So funktionieren die Regeln
Wer in einem EU-Staat bereits ein Asylgesuch deponiert hat, soll dies in keinem weiteren Mitgliedstaat mehr tun: Das ist die Grundidee der Dublin-Regeln, die für alle 28 EU-Staaten sowie die 4 assoziierten Staaten Norwegen, Island, Liechtenstein und die Schweiz gelten. Die Schweiz macht bei diesem System seit Dezember 2008 mit. Gemäss Dublin-Abkommen ist jener Staat für einen Flüchtling zuständig, von dessen Behörden er zum ersten Mal registriert wurde. Versucht der Asylsuchende danach sein Glück auch noch in einem anderen Land, kann er von diesem ohne Prüfung des Gesuchs in den Erststaat zurückgeschickt werden. Die Frist für die Rückweisung eines Dublin-Falles beträgt ein halbes Jahr. Eine wichtige Rolle für das Funktionieren des gesamten Systems spielt die Datenbank Eurodac. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind verpflichtet, die Fingerabdrücke von Asylsuchenden abzunehmen und sie in dieser Datenbank zu registrieren. Auf diese Art und Weise können Mehrfachgesuche sofort identifiziert und die Asylsuchenden in jenen Staat zurückgeschickt werden, der aufgrund der Dublin-Regeln für das Gesuch zuständig ist. Als Beweise für die Zuständigkeit gilt nicht nur ein Eintrag in der Datenbank Eurodac. Auch ausgestellte Visa, Reisestempel im Pass, Zugtickets, Hotelrechnungen, Karten für Arzttermine oder Quittungen von Supermärkten können geltend gemacht werden. (kä)

Immer weniger Ausländer kommen in die Schweiz

Video: srf
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32 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Domino
11.01.2019 08:37registriert Januar 2016
Und wieviele sind tatsächlich politisch verfolgt?
Ich wäre froh, wenn man unterscheiden würde in:
- wirtschaftliche Migranten
- Vorübergehende Kriegsflüchtlinge / Schutzsuchende
- politische Verfolgte / Asylanten
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pun
11.01.2019 09:30registriert Februar 2014
Ein von Anfang an völlig defektes System.
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Freddie Quecksilber
11.01.2019 08:42registriert Juli 2017
Wieso stellt deutschland und frankreich uns die Gesuche und nicht dem ersten Einreiseland?
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