Wenn Sina heute nah an den Spiegel tritt, sieht sie die Narben im Gesicht immer noch. Narben von einer Abendschicht im Sommer 2022, als eine Patientin auf sie losging.
Sina heisst eigentlich anders. Und bis vor kurzem war sie Sozialpädagogin an einer grösseren Psychiatrischen Klinik in der Schweiz. Dort betreute sie Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Sie landen in jener Klinik, weil andere Heime und Tagesstätten nicht mehr mit ihnen klarkommen.
Aufgrund ihrer Beeinträchtigung sind viele von ihnen in ihren Kommunikationsfähigkeiten stark eingeschränkt. Oft sehen sie keine andere Möglichkeit auf ihr Unbehagen oder ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen als mit Gewalt, sagt Sina und fügt an:
Sie habe häufig blaue Flecken von der Arbeit mit nach Hause genommen.
Dass Gewalt für Beschäftigte in Alters- und Pflegeheimen, Spitex, sozialmedizinischen Zentren und psychiatrischen Institutionen alltäglich ist, schreibt auch der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und – fachmänner (SBK) auf seiner Website.
In der Schweiz nimmt diese Gewalt stetig zu, wie im Mai eine Auswertung des Bundesamts für Statistik zeigte. 2023 registrierten die Kantonspolizeien 490 Gewaltstraftaten an Schweizer Spitälern und Kliniken. Darunter fallen schwere Drohungen, Handgreiflichkeiten bis hin zu lebensbedrohlichen Verletzungen.
Lebensbedrohlich hätte auch der Vorfall enden können, der in Sinas Gesicht Narben hinterlassen hat. Am besagten Abend im Sommer 2022 bestreitet sie die Abendschicht allein. Wie so oft. Personalmangel eben. Sie ist überlastet, kommt kaum hinterher. Aber bald hat sie es geschafft. Sie muss nur noch die Medikamente ausgeben. Dann hat sie Feierabend.
Dass sich eine Patientin immer gegen die Einnahme der Medikamente wehrt, weiss Sina. Dass man deshalb besser nicht allein mit ihr ist, auch. Sina überlegt noch, ob sie jemanden von einer anderen Station zu Hilfe holen soll, entscheidet sich dann aber dagegen. Auch diese ist knapp besetzt. Sie sagt sich: «Es hat ja bisher immer einigermassen geklappt», und tritt mit den Medikamenten allein ins Zimmer der Patientin.
Doch an diesem Abend klappt es nicht. Die Patientin rastet aus. Sie schimpft, flucht, schreit, kratzt, schlägt um sich und auf Sina ein. Die Situation droht zu eskalieren.
Sina drückt den Notfallknopf. Doch er funktioniert nicht. Niemand kommt.
Dann beisst die Patientin zu. Mit voller Kraft in Sinas Kopf.
«Es hat höllisch wehgetan», sagt Sina. Irgendwie habe sie es trotzdem geschafft, sich loszureissen und sich ins Stationsbüro zu retten. Dort kann Sina telefonisch Hilfe von einer anderen Station anfordern. Schliesslich fährt eine Mitarbeiterin Sina mit blutendem Kopf, blauen Flecken und Kratzspuren im Gesicht in den Notfall.
Bis vier Uhr morgens bleibt Sina dort. Nicht nur um sich verarzten zu lassen. Auch um allerlei Tests durchführen zu lassen. Denn ein Menschenbiss kann lebensbedrohliche Komplikationen nach sich ziehen.
Sina hat Glück. Sie trägt keine bleibenden Schäden davon. Zumindest nicht körperlich. Sie kann bald zur Arbeit zurückkehren. Dort besprechen ihre Vorgesetzten den Vorfall im Team und schicken Sina anschliessend in einige Psychotherapie-Sitzungen, damit sie das Erlebte verarbeiten kann.
Das ist ja schön und gut, findet Sina. Aber: «Was ich wirklich gebraucht hätte, wäre ein Signal meiner Klinikleitung oder wenigstens meiner Vorgesetzten, das mir gezeigt hätte: Das, was hier passiert ist, ist nicht in Ordnung und kommt nicht mehr vor.»
Doch das passiert nicht. Der Alltag geht weiter wie bisher. Sina bestreitet allein Abendschichten, das Notrufsystem steigt immer wieder mal aus.
Für die Vorgesetzten und die Klinikleitung ist der Fall abgehakt. Sie hüllen sich in Schweigen. Dieses Schweigen gibt Sina das Gefühl, als wäre das, was die Patientin ihr angetan hat, nicht so schlimm. Normal. Nicht der Rede wert. Und letzten Endes sogar: okay.
Nur ein Mal spricht Sina den Vorfall nochmals an. Sie fragt ihren Vorgesetzten, ob sie die Zeit, die sie auf der Notfallstation verbringen musste, als Arbeitszeit anrechnen lassen kann. Er verneint. Für Sina ein Schlag ins Gesicht. «Ich fühlte mich ausgenutzt und alleingelassen.»
Der diplomierte Pflegefachmann und Rechtsanwalt, Pierre-André Wagner, ist beim SBK zuständig für den Rechtsschutz der Mitglieder. Er ist schockiert von Sinas Geschichte. Nicht in erster Linie wegen des Bisses. Solche Übergriffe kämen in der Pflege in der Schweiz leider tatsächlich immer wieder vor. Er ist schockiert ob des Verhaltens der Klinik.
Diese hätte den Notfall-Aufenthalt von Sina nicht als Arbeitszeit anrechnen müssen. Aber:
Auf Wagner wirkt es so, als wäre Sinas Klinik ihrer Fürsorgepflicht nicht nachgekommen. «Jeder Arbeitgeber ist gesetzlich verpflichtet, die Sicherheit seines Personals im Betrieb sicherzustellen», sagt Wagner.
Nach einem Vorfall wie dem Biss, müsste der Arbeitgeber Massnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass so etwas nicht mehr passieren könne. Solche Massnahmen könnten sein: Dass Pflegende nicht mehr alleine mit der Patientin sein dürften oder dass Pflegende und Patienten räumlich voneinander getrennt werden, etwa mit Schutzwänden.
Doch nichts von alledem passierte. Der Biss hatte für die Patientin keine Konsequenzen. «Das haben solche Übergriffe nie», sagt Sina. Damit legitimiere die Klinik gewalttätiges Verhalten gegen das Personal. Mehr noch: Sie fördere es sogar, ist Sina überzeugt. Die Patientinnen und Patienten lernten so: Mit Gewalt kann ich meinen Willen durchsetzen.
Sina sagt:
Die Vorgesetzten und die Klinikleitung seien der Auffassung, die Patientinnen und Patienten könnten wegen ihrer kognitiven Beeinträchtigung nichts für ihr gewalttätiges Verhalten. Und die Angestellten wüssten in ihrem Beruf ja, worauf sie sich einliessen.
Wagner vom SBK sagt dazu klar:
Natürlich bestehe bei Personen mit kognitiver Beeinträchtigung das Problem, dass sie nicht zurechnungsfähig und damit nicht schuldfähig seien. Zumindest nicht vor Gericht. Aber: «Der Grund für einen Übergriff spielt keine Rolle. Jeder Übergriff ist einer zu viel und darf nie als ‹Normalität› angesehen und behandelt werden.»
Die Art und Weise, wie Sinas Klinik auf den Übergriff reagiert habe, sei in der Schweiz sicher nicht die Regel, betont Wagner. Aber: Von einem Einzelfall könne man ebenfalls nicht sprechen. Leider.
Gemäss Wagner können Kliniken auch bei Übergriffen von Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen Konsequenzen walten lassen. Doch dafür brauche es eben entsprechende Ressourcen: Zeit und gut ausgebildetes Personal.
Sina wäre genau dafür ausgebildet, tiefergreifend mit den Patientinnen und Patienten an ihrer Gewaltbereitschaft zu arbeiten. Es ist ihr gar ein Anliegen, dies zu tun. Sie hat viel Verständnis für die Patientinnen und Patienten. «Ich weiss, sie handeln oft nicht aus Böswilligkeit, sondern aus einer Not heraus. Aber auch sie müssen lernen, ohne Gewalt ihre Bedürfnisse zu kommunizieren.» Häufig landeten sie ja genau deshalb in der Klinik.
Doch wegen zu knappem Personal bleibe genau diese Tiefenarbeit auf der Strecke. «Man ist immer nur damit beschäftigt, das nächste Feuer zu löschen.»
Es überrascht nicht, dass Wagner vom SBK den Pflegepersonalmangel als einen Hauptfaktor ausmacht, der für die Zunahme an Übergriffen gegen Pflegende verantwortlich ist. Personalmangel bedeute mehr Stress, weniger Zeit für gewissenhafte Arbeit – gerade in Psychiatrischen Kliniken –, und längere Wartezeiten. Das mache die Patientinnen und Patienten aggressiv.
Oft sei Gewalt Ausdruck eines Ohnmachtsgefühls der Patientinnen und Patienten. Aber nicht nur. «Es geht auch darum, Macht zu demonstrieren. Das beobachten wir zumindest stark bei sexuellen Übergriffen von Patienten auf Pflegerinnen», sagt Wagner.
Ganz besonders fehlten gut ausgebildete Pflegekräfte. Aus Mangel an diesen würden öfter weniger gut ausgebildete Pflegende eingestellt und eingesetzt. Das erhöhe je nach Situation das Gefahrenpotenzial weiter. Pflegende müssten etwa häufiger allein arbeiten und seien somit «einfache Opfer».
Auch Sina war allein in der Abendschicht wohl ein einfaches Opfer. Mit langanhaltenden Folgen: Sie erzählt, wie sie sich nach dem Biss auf der Arbeit und dem Nachhauseweg ständig umsehen musste. Aus Angst, eine Patientin oder ein Patient verfolge sie, könnte sie angreifen.
«Diese Anspannung ist nie mehr ganz von mir abgefallen», sagt Sina. Auch nicht, nachdem die Klinik endlich ihr Notrufsystem repariert hatte. Der Personalmangel sei eine stetige Belastung geblieben. Die Mentalität der Klinik auch. «Bagatellvorfälle» – wie Sina jene Fälle nennt, in denen sie von Patientinnen oder Patienten etwa «nur» geschlagen, geschubst oder bedroht wurde – hätten die Vorgesetzten weiterhin nicht kommentiert, ignoriert, akzeptiert.
Zwei Jahre nach dem Biss-Vorfall reichte Sina deshalb ihre Kündigung ein. Sie kam für sich zum Schluss:
Sie seien schliesslich nicht selbst von der Gewalt betroffen. Würden in ihren abschliessbaren Büros sitzen. Seien nur darauf bedacht, dass die Klinik Gewinn mache. Und das weit weg von lebensbedrohlichen Menschenbissen.
Steht zwar nicht so im Text, aber ich vermute früher oder später verlässt Sina ihren Beruf. Wer könnte es ihr verdenken, es ist ein Skandal, wie die Pflegenden von der Führung behandelt werden. Es ist doch für alle das höchste Bedürfnis, bei der Arbeit keine Angst zu haben und gesund Nachhause zu gehen.
Ich danke allen Pflegenden, welche trotz dieser Bedingungen täglich das wohl von Fremden vor ihr eigenes stellen.
Ich hoffe, dass eure Zeit kommt und ihr die eigentlich selbstverständliche Wertschätzung bekommt.
Das ist einfach nur beschämend.
Das ist Jahrzehnte her. Es erstaunt, dass die Sicherheit der Pflegefachkräfte auch heute noch nicht viel besser zu sein scheint...