Warum der Bundesrat «trotzdem» funktioniert
Das politische System der Schweiz ist einmalig auf der Welt. Das betrifft nicht die direkte Demokratie, die gibt es auch anderswo. Speziell ist unsere Regierung, die aus nur sieben gleichberechtigten Mitgliedern ohne «richtige» Chefin oder Chef besteht. Sie werden nicht wie in anderen Ländern ernannt, sondern einzeln vom Parlament gewählt.
Ausländische Politiker wundern sich oft über unseren Bundesrat, und auch manche Schweizerinnen und Schweizer tun sich schwer damit, dieses System zu durchschauen. Für sie gibt es nun ein detailreiches und gleichzeitig leicht lesbares Buch mit dem vielsagenden Titel «Wie der Bundesrat die Schweiz regiert. Und weshalb es trotzdem funktioniert».
Verfasst hat es Walter Thurnherr, seines Zeichens Bundeskanzler von 2016 bis 2023. Schon das ist eine Herausforderung: Viele wissen gar nicht, dass es in der Schweiz auch einen Bundeskanzler gibt. Und wer dieses Amt gerade ausgefüllt (derzeit ist es der Berner Grünliberale Viktor Rossi). Dabei würde «es» ohne ihn gerade nicht funktionieren.
«Nummer acht» auf dem Foto
Der Bundeskanzler der Eidgenossenschaft ist nicht vergleichbar mit jenem in Deutschland oder Österreich. Als Stabschef des Bundesrats koordiniert er die sieben Departemente, und er bildet die Schnittstelle zur Verwaltung. Das verleiht ihm mehr Macht, als viele meinen. Es ist kein Wunder, dass er auf dem Bundesratsfoto als «Nummer acht» auftaucht.
Der Aargauer Walter Thurnherr (CVP/Mitte) galt schon während seiner Amtszeit als fähiger Kanzler. Bei seinen öffentlichen Auftritten erlebte man ihn als geistreichen und pointierten Redner. Mehrfach wurde spekuliert, er wolle selbst Bundesrat werden, was er an der Vernissage seines Buches am Donnerstagabend in Bern verneinte.
Vorzüge des Präsidiums
Seit seinem Rücktritt doziert der 62-jährige studierte Physiker an der ETH Zürich. Dort entstand die Idee für das Buch. Es kann als eigentliche Liebeserklärung an das System interpretiert werden, dem Thurnherr gedient hat. Es mag von aussen langsam und umständlich erscheinen, doch es führe oft zu stabileren Entscheiden als in anderen Ländern.
Dabei verschweigt der Ex-Kanzler im mit (Selbst-)Ironie angereicherten Buch die Kehrseiten nicht. Zum Beispiel beim jährlich wechselnden Bundespräsidium. Man hat nicht mehr Macht als ein «normaler» Bundesart und geniesst doch Vorzüge, die «bei erstaunlich vielen» das Gefühl erzeugten, sie seien nicht nur «Primus inter Pares», sondern «Primus».
Neun statt sieben? Eher nicht
Thurnherr hält nicht nur deshalb wenig von Reformideen wie einem zwei- oder vierjährigen Bundespräsidium. Gegen aussen wäre es im Interesse einer stärkeren Vernetzung der Schweiz «sicher ein Vorteil». Ob es aber im Bundesrat selbst die Kollegialität erhöhen würde, sei «fraglich». Mit anderen Worten: Es könnte bei den übrigen Sechs Neid erzeugen.
Auch eine Aufstockung des Bundesrats von sieben auf neun Mitglieder – ein Dauerbrenner seit mehr als 100 Jahren – beurteilt Thurnherr kritisch. Das System könnte schwerfälliger werden, etwa beim Mitberichtsverfahren, das ausführlich geschildert wird. Das Sprichwort «Viele Köche verderben den Brei» hat gerade im Schweizer System seine Berechtigung.
Informelle Geheimwaffe
Ein erhellender Aspekt des Buchs sind die informellen Aspekte des Regierens. Sie sind so etwas wie eine «Geheimwaffe», damit das komplexe Räderwerk zwischen Bundesrat, Verwaltung und Parlament am Ende eben doch funktioniert. Dazu gehört, dass die Pulte im Bundesratszimmer seit 1992 im diskussionsfreundlichen Halbrund angeordnet sind.
Besonders bewährt habe sich der erst 2014 von Bundespräsident Didier Burkhalter eingeführte Morgenkaffee vor der wöchentlichen Bundesratssitzung (ihren Ablauf schildert Walter Thurnherr minutiös). Schon beim Beisammensein im Vorzimmer könnten absehbare Spannungen bei den zu behandelnden Geschäften präventiv gelöst werden.
Die Rolle der Mittagessen
Eine ähnliche Rolle spielt das Mittagessen. Wenn sich das Gremium bei einem Geschäft verheddert, könne die Bundespräsidentin die Diskussion abbrechen – und am Esstisch löst sich der Knoten. Auch bei den viermal jährlich stattfindenden Von-Wattenwyl-Gesprächen mit den Bundesratsparteien sei das Mittagessen «mindestens so wichtig» wie der formelle Teil.
Solche Einblicke machen Thurnherrs Buch wertvoll. Zum Bestseller dürfte es dennoch kaum werden, auch weil es an «Human Touch» mangelt. Der ehemalige Bundeskanzler geizt mit Anekdoten über Bundesräte, von denen er bestimmt eine grosse Zahl auf Lager hat. Wenn überhaupt, stammen sie oft aus früheren, für heutige Leser ziemlich fernen Zeiten.
«Diebischer» Alt-Bundesrat
Nur in einer Fussnote wird erwähnt, dass der ehemalige Aussenminister Marcel Pilet-Golaz – wegen seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg ohnehin eine umstrittene Figur – die Bundeskasse um 170’000 Franken «geprellt» hatte. Oder «betrogen», wie Walter Thurnherr an der Vernissage pointierter sagte. Der Grund war, dass Pilet-Golaz das damalige Ruhegehalt zu tief fand.
Er nahm nach seinem Rücktritt deshalb lukrative Mandate an, die er nicht alle mit der Bundespension verrechnete (was noch heute vorgeschrieben ist). Nach seinem Tod zahlte die Familie 40’000 Franken zurück. Noch früher gab es überhaupt kein Ruhegehalt, weshalb sich nicht wenige Bundesräte bis ins 20. Jahrhundert regelrecht zu Tode arbeiteten.
Der fatale 4:3-Entscheid
Auffällig ist das Fehlen konkreter Beispiele bei einem wichtigen Punkt: Viele wissen nicht, dass im Bundesrat nur selten abgestimmt wird. Besonders heikel sind 4:3-Entscheide. In solchen Fällen sei es ratsam, eine Pause zu machen oder das Geschäft zu verschieben. Doch ausgerechnet in einem brisanten Fall hielt sich der Bundesrat nicht daran.
Gemeint ist das Beitrittsgesuch der Schweiz zur Europäischen Gemeinschaft, der heutigen EU. Der Bundesrat entschied sich im Mai 1992 mit 4:3 dafür, wobei SVP-Bundesrat Adolf Ogi für den Beitritt war und SP-Finanzminister Otto Stich dagegen. Nicht erst seit heute ist klar, dass dieser weitreichende Entscheid niemals derart knapp hätte ausfallen dürfen.
Grenzenlose Loyalität
Es wäre ein Paradebeispiel, doch Walter Thurnherr verliert dazu kein Wort. Dabei ist das Sitzungsprotokoll einsehbar, denn Thurnherr selbst hatte als Bundeskanzler bewirkt, dass die Sperrfrist im Bundesarchiv von 50 auf 30 Jahre gesenkt wurde. Wollte er aus Rücksicht auf die noch lebenden damaligen Bundesräte (Koller, Ogi, Villiger) nichts schreiben?
Bei allen teilweise süffisanten Bemerkungen ist Walter Thurnherrs Loyalität zum Bundesrat fast grenzenlos. Deshalb gibt es aus der jüngeren Geschichte kaum konkrete Beispiele, sondern allenfalls Andeutungen. Etwa zur Corona-Pandemie, die er hautnah miterlebt hat. Oder zu den fehlenden Informationen zum Zustand der Credit Suisse durch Ueli Maurer.
Das braucht ein Bundesrat
Das schmälert das Leservergnügen, weshalb wohl nur Politikinteressierte zum Buch greifen werden. Am Ende schildert Thurnherr, was einen guten Bundesrat ausmacht. Dazu gehört neben robuster Gesundheit und dicker Haut die Fähigkeit, den richtigen Zeitpunkt für einen Rücktritt zu erkennen. Und vor allem muss er es gerne machen, sonst ist er fehl am Platz.
Längst nicht alle erfüllen alle Anforderungen, weshalb sich mancher Bundesratskandidat glücklich schätzen könne, «dass er es nie geworden ist». Letztlich bringt es der frühere Bundeskanzler mit einem Satz auf den Punkt: «Das Amt erfordert viel Können, viel Kraft, viel Arbeit, viel Glück, viel Geduld und einen breiten Rücken.»
Anmerkung: Als Naturwissenschaftler hat Walter Thurnherr den zwölf Kapiteln eine Rechen- oder Denkaufgabe vorangestellt. Die Lösung der Rätsel ist – nett formuliert – nicht ganz einfach.
