Die Sonne ist eben aufgegangen. Und schon klingelt es um Punkt 8 Uhr zum Schulstart. «Seid ihr bereit? Ein bisschen schneller bitte!», ruft Julia Sabbatini in der Turnhalle in Richtung Garderobe. Auch als die ersten Kinder eintrudeln, braucht es den Anstupf der Primarlehrerin: «Du musst deine Schuhe noch schliessen, Stan. Und setzt euch bitte in den Kreis!»
Eine normale Turnstunde an einem Freitagmorgen – könnte man meinen. Wäre da nicht die Sprache. Julia Sabbatini redet auf Deutsch zu den Sechstklässlern, obwohl wir uns in der französischsprachigen Schweiz befinden: in Cressier NE, zwischen Bieler- und Neuenburgersee. Auch in Mathe, Geografie und Musik werden die elf- bis zwölfjährigen Kinder auf Deutsch unterrichtet – ohne das gewählt zu haben. Denn hier im Dorf gibt es nur eine Klasse pro Jahrgang.
Immersives Sprachenlernen nennt sich das Modell. Ein Fünftel aller Schulkinder im Kanton Neuenburg wird bereits so unterrichtet – und das ab dem Kindergarten. Je nach Stufe bewegt sich der Fächeranteil, der nicht in der Muttersprache abgehalten wird, zwischen 20 und 50 Prozent. Hinzu kommt der reguläre Fremdsprachenunterricht, wobei in Neuenburg Deutsch ab der 3. Klasse startet.
Kein anderer einsprachiger Kanton forciert den immersiven Sprachunterricht während der obligatorischen Schulzeit so stark. Mehrere Kantone interessieren sich aber für das Modell: nicht nur in der Romandie, wo etwa in der Waadt ein parlamentarischer Vorstoss hängig ist, sondern auch in der Deutschschweiz. Die Herausforderungen sind schliesslich ähnlich – einfach mit umgekehrten Vorzeichen: Während bei uns Französisch Kopfzerbrechen bereitet, ist es in der Westschweiz das Deutsch.
Genau deswegen ist Julia Sabbatini vom Projekt in Neuenburg angetan: «Hier entwickeln die französischsprachigen Kinder von klein auf einen natürlichen Zugang zum Deutsch und verlieren die Angst vor der Sprache». Die 28-Jährige arbeitet seit Sommer 2021 an der Schule in Cressier. Sie stammt aus Erlinsbach AG und machte die Ausbildung zur Primarlehrerin an der PH Brugg.
Sie habe Französisch immer gemocht und davon geträumt, einmal in der Romandie zu arbeiten, sagt die Aargauerin. Nach einem einjährigen Arbeitseinsatz an einer deutsch-französischen Schule in Frankreich traute sie sich den Schritt zu.
Auch wenn sie die Turnstunde nun auf Deutsch abhält, muss die Aargauerin die französische Sprache von A bis Z beherrschen. Aufträge wie «Matte aufstellen» oder «Bänke versorgen» verstehen die Kinder zwar problemlos auf Deutsch, doch dürfen sie in der Sprache ihrer Wahl antworten – was meist Französisch ist. Zudem erzielt ein Appell in der Muttersprache manchmal mehr Wirkung: «On respecte les règles et les équipes!», ruft Sabbatini ihrer 16-köpfigen Klasse zu, als beim Spielen ein Tohuwabohu droht.
Im Matheunterricht verteilt die Primarlehrerin ein Übungsdossier zu Winkeln und Formen. Sie hat es selbst zusammengestellt. Denn bilingue Schulmaterialien gibt es kaum. Bevor es ans Aufgabenlösen geht, müssen die Kinder alles durchlesen und markieren, was sie verstehen. Danach werden die Unklarheiten besprochen.
«Ich weiss, es mag am Anfang blöd klingen, dass französischsprachige Kinder den Ausdruck des gleichschenkligen Dreiecks lernen», sagt Sabbatini. Aber gerade solche Wörter böten die Gelegenheit, das Verständnis für die deutsche Sprache zu fördern: «Man kann anhand der geometrischen Figur diskutieren, was ‹gleich› bedeutet, was ‹Schenkel› und was ‹Ecken› sind».
Für die 28-Jährige ist der zusätzliche Zeitaufwand dabei kein Nachteil. Beim Unterrichten in einer Fremdsprache erkläre man die Dinge häufiger, aber gerade das – kombiniert mit dem Gebrauch einfacher Wörter, Gestik und Mimik – erleichtere der Klasse das Verständnis eines Themas. Das gelte auch für Kinder mit Legasthenie oder einer anderen Muttersprache als Deutsch oder Französisch.
Sabbatini sagt: «Ich fände es super, wenn wir auch in der Deutschschweiz vermehrt auf immersiven Französischunterricht setzen würden.» Also gewissermassen auf den «triangle isocèle» statt auf das gleichschenklige Dreieck.
Pionier diesseits des Röstigrabens ist Solothurn. Als erster einsprachiger Kanton schrieb die Regierung den immersiven Unterricht für Französisch in ihre Legislaturziele. Aktuell nehmen über zehn Schulen am Pilotprojekt teil, wobei meist nur einzelne Unterrichtseinheiten auf Französisch abgehalten werden.
Nach Abschluss der wissenschaftlichen Analysen werde im Herbst 2025 über das weitere Vorgehen entschieden, heisst es beim Solothurner Volksschulamt. Angedacht sei, nach dem Neuenburger Vorbild, an ausgewählten Schulen deutsch-französische Klassenzüge aufzubauen.
Der Entscheid ist auch ein politischer: Welchen Stellenwert messen wir dem Französisch zu? Solothurn ist wegen der Nähe zur Romandie sensibilisiert. In anderen Kantonen wird der Diskurs dagegen von Diskussionen über eine Reduktion des Fremdsprachenunterrichts auf Primarstufe dominiert, wie dies auch die FDP letzten Sommer forderte.
Laurent Gajo sieht im «rauen Klima» rund um das Frühfranzösisch eine Schwierigkeit für das Etablieren des immersiven Unterrichtsmodells in der Deutschschweiz. Der Sprachenwissenschaftler von der Uni Genf begleitet die Projekte in Solothurn und Neuenburg wissenschaftlich. Laut ihm zeigen sich beiderorts ähnlich positive Resultate.
Abgeschlossen sind die Analysen zu den Neuenburger Frühstartern – also den ersten Kindern, die ab 2011 auf allen Stufen immersiv auf Deutsch unterrichtet wurden. Sie wiesen in Vergleichstests gegen Ende der Primarschule rund zwei Jahre Vorsprung im Fach Deutsch auf, sagt Gajo. Er streicht insbesondere die mündliche Kommunikation hervor, warnt aber auch vor übertriebenen Hoffnungen: «Man darf nicht perfekte Übersetzer erwarten.»
Im Englisch hatten die Schüler im Schnitt ein Jahr Vorsprung auf gleichaltrige «Gspändli». Gajo erklärt dies damit, dass die Kinder dank bilinguem Unterricht generelle Strategien zum Erlernen von Fremdsprachen entwickeln. Derweil wirkte sich der Deutsch-Boom in Neuenburger Klassen nicht negativ auf die Resultate der Kinder im Französisch aus, in der Mathematik waren sie sogar etwas besser.
Alles in beurre, Pardon, Butter also? Nicht ganz. In der kantonalen Lehrergewerkschaft brodelt es. «Der Kanton will das Programm viel zu schnell ausdehnen», sagt Präsident Pierre-Alain Porret. Zwar sei man von den Vorzügen des immersiven Sprachunterrichts überzeugt. Doch verkenne die Forderung des Kantons, ab 2027 in allen dreizehn Schulzentren zweisprachige Klassen aufzubauen, die Realität: «Es fehlen schlicht und einfach genügend gut ausgebildete Lehrer.»
Auf Lehrpersonen werde Druck ausgeübt, damit sie künftig auf Deutsch unterrichten – auch wenn sie sich in der Sprache nicht genügend sicher fühlen. Das mache ihn wütend, sagt Porret. Er glaubt, dass die Resultate bisher nur deshalb so positiv sind, weil es sich um Klassen von «supermotivierten und kompetenten» Lehrpersonen handelte, die auch den erhöhten Vorbereitungsaufwand nicht scheuten. «Wird das Modell von oben herab aufgezwungen, droht die Unterrichtsqualität abzunehmen.»
Beim Kanton beschwichtigt man. «Wir wissen, dass es Grenzen gibt, und wir kurzfristig nicht alle Schulkinder bilingue unterrichten können», sagt Jean-Claude Marguet, Chef der Dienststelle für Volksschulbildung. Gleichzeitig sei man aktiv daran, qualifizierte Lehrpersonen zu gewinnen: So wurde mit pädagogischen Hochschulen ein bilinguer Studiengang aufgebaut. Zudem stelle man das Projekt in anderen Kantonen vor und setze auf Mund-zu-Mund-Propaganda, um Deutschschweizer Lehrkräfte nach Neuenburg zu locken.
Das klappt jedoch nicht immer so gut wie im Fall von Julia Sabbatini. Laut dem für Cressier zuständigen Schuldirektor, Laurent Winkler, bleiben nur wenige Deutschschweizer Lehrpersonen so lange wie die Aargauerin: «Viele gehen nach einem Jahr wieder zurück, weil sie merken, dass die kulturellen Unterschiede zu gross sind, oder ihnen das soziale Gefüge fehlt.» Es sei daher wichtig, ihnen bei der Integration in das neue Umfeld zu helfen.
Julia Sabbatini allerdings hat den Sprung über den Röstigraben nicht bereut. Die Aussagen ihrer Schulkinder dürften sie auf ihrer Mission bestärken: «Früher hasste ich Deutsch, doch nun habe ich es lieber als Englisch», sagt Lea (11). Und Romain (12) doppelt nach: «Ich dachte immer, Englisch gefalle mir mehr, weil es nützlicher ist. Jetzt ist das nicht mehr so.»
Vieles lernt man auf diesem Weg besser.
Meine Ex kann heute noch franzöische Verben konjugieren, kann aber auf franzöisch keinen Kaffee bestellen im Restaurant.
Ich denke es hätte Angst Fehler zu machen verkleinern
P.S : der Franz Test bei Watson diese Woche ist ein Beispiel wie man das Sprachenlernen verleidet bekommt, sämtliche Sätze wären mit jeder Antwort verständlich geblieben (wenn auch mit Fehlerhaft) und jeder Romand hätte Freude das es wenigstens probiert wurde