Wie viel Einfluss hat die EU auf die Schweizer Gesetze? Es ist eine Frage mit Sprengkraft, erst recht bei heiss umstrittenen Dossiers wie der Personenfreizügigkeit. Doch fernab der öffentlichen Aufmerksamkeit gibt es ein Politikfeld, das viele europäische Spuren trägt – und trotzdem kaum je Empörung hervorruft: Das Schweizer Eisenbahnrecht ist stark von Brüssel geprägt. In diesem Bereich richtet die Schweiz praktisch alle Vorschriften nach der EU aus. Zum einen übernimmt sie direkt technische Normen, zum anderen kommen Impulse zur Gesetzgebung von der EU.
Dass das so ist, ist dem bilateralen Landverkehrsabkommen geschuldet. Die Schweiz wendet das Prinzip der gleichwertigen Rechtsvorschriften für die Bahn an, wie Juristen das nennen. Das heisst: Die Regeln in der Schweiz und in der EU müssen nicht identisch sein, sich in ihrer Wirkung aber gegenseitig entsprechen. Das Eisenbahnrecht ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich nationale und europäische Vorgaben kaum mehr trennen lassen. Und es illustriert, warum Schweizer Verkehrsunternehmen zusehends in Brüssel für ihre Interessen weibeln müssen.
Die hiesigen Bahnen versuchen munter, Einfluss auf die europäische Gesetzgebung zu nehmen. Die SBB haben ihr Lobbying bei der EU verstärkt – und dürften es weiter verstärken: «Die EU-Gesetzgebung im Eisenbahnsektor ist für die Schweiz bereits heute sehr wichtig und wird in der Tendenz immer wichtiger», erklärt ein Sprecher auf Anfrage. Allein im Jahr 2018 wandten die SBB eigenen Angaben zufolge über 400'000 Euro für Lobbying in Brüssel auf.
Zwei Mitarbeiter aus dem Bereich Regulatory and International Affairs, so die offizielle Bezeichnung bei den Bundesbahnen, sind für die politische Interessenarbeit bei der EU zuständig und verfügen über einen Zutrittsausweis zum Europäischen Parlament.
Auf der Lohnliste der SBB steht auch der frühere Chef des Brüsseler Verbindungsbüros der Österreichischen Bundesbahnen. Diese Informationen gehen aus dem Transparenzregister der EU-Kommission hervor. Darin müssen sich Firmen und Verbände eintragen, wenn sie bei der Europäischen Kommission lobbyieren.
Doch für welche Anliegen weibeln die SBB eigentlich in Brüssel? Derzeit ringen die EU-Gremien etwa um die Frage, wie das vierte EU-Eisenbahnpaket genau umgesetzt werden soll. Kern dieses Megaprojekts ist die Liberalisierung des Personenverkehrs. In der Schweiz sind selbst vorsichtige Marktöffnungen nicht mehrheitsfähig, deshalb bleibt vorerst nur der Güterverkehr liberalisiert. Ziel des vierten Pakets ist jedoch auch, die sogenannte Interoperabilität zu erhöhen. Gemeint ist damit der Abbau von technischen Hemmnissen, wenn Züge die Landesgrenzen überschreiten.
Die SBB betonen: Ohne harmonisierte Normen sei die Anbindung der Schweiz an Europa nicht sichergestellt. Ein Sprecher erklärt, die Bundesbahnen hätten ein Interesse daran, «ihr Fachwissen bei der Erarbeitung dieser Normen zur Verfügung zu stellen, damit der Anpassungsbedarf nicht zu gross ist und sie rechtzeitig über Änderungen informiert sind».
Diesen Vorteil sieht auch der Bahngewerkschafter Philipp Hadorn. «Es ist völlig legitim, dass die SBB im Interesse unseres öffentlichen Verkehrs in Brüssel lobbyieren», findet der SP-Nationalrat. Die Schweiz habe sich angesichts ihres engmaschigen und voll ausgelasteten Bahnsystems bewusst gegen die gänzliche Übernahme des EU-Rechts und damit eine volle Marktöffnung entschieden. «Vor diesem Hintergrund ist es ebenfalls wichtig, zu wissen, was in Brüssel läuft», sagt Hadorn.
Ein Indiz dafür, dass die Lobbyarbeit bei der EU noch wichtiger werden wird, ist der vom Bundesrat angestrebte Beitritt zur Europäischen Eisenbahnagentur (ERA). Die Behörde soll zur einzigen Stelle für Genehmigungen im grenzüberschreitenden Verkehr werden. Die Verhandlungen über den ERA-Beitritt harzen allerdings. Denn ohne Rahmenabkommen schliesst die EU derzeit keine neuen Verträge mit der Schweiz ab.