Es ist der 3. Juni 2011. Die Nati hat einen Umbruch hinter sich. Alex Frei und Marco Streller sind zurückgetreten. Auftritt Granit Xhaka. 18-jährig ist er damals. Das Wembley die Bühne. «Bist du bereit, in diesem Stadion vor über 80'000 Menschen aufzulaufen?», fragt Trainer Ottmar Hitzfeld am Tag vor dem Spiel England-Schweiz. «Kein Problem, dafür bin ich ja da», entgegnet Xhaka. Sein erster Nati-Auftritt entzückt die Schweiz. Erfrischend, furchtlos, voller Selbstvertrauen.
Das erste Mal nimmt die Schweiz von Xhaka rund um die U17-WM in Nigeria im Herbst 2009 Notiz. Vor dem Final bricht in Abuja der Verkehr zusammen. Die Nati steht im Stau. Trainer Dany Ryser sorgt sich, ob seine Jünglinge mit der Situation klarkommen. Dann kommt Xhaka zu ihm nach vorne, sagt: «Trainer, keine Sorge, sie können ja nicht ohne uns anfangen!» Die Schweiz gewinnt 1:0 gegen Nigeria und wird Weltmeister.
Ein Leader ist er längst, bis Xhaka aber offiziell Captain der Nati wird, dauert es. Das hat mit Stephan Lichtsteiner zu tun, der gegen Karriereende zwar nicht mehr immer gefragt, doch der Spielführer ist. Im Spätsommer 2020 ist es so weit, Vladimir Petkovic macht seinen Strategen, nicht ganz 28-jährig, zum Captain. Wobei Xhaka stets betont: «Das Bändeli ist mir nicht so wichtig, ich übernehme auch so viel Verantwortung.»
WM 2018 in Russland. Die Schweiz trifft auf Serbien. Die Stimmung ist aufgeladen. Die serbischen Zuschauer provozieren und demütigen mit Gesängen jene Schweizer Spieler mit kosovarischem Hintergrund. Die Schweiz liegt 0:1 hinten, dann schiesst ausgerechnet Xhaka das 1:1, Shaqiri das 2:1. Der Jubel mit dem Doppeladler löst tagelange Diskussionen, ja eine veritable Krise aus. Der Doppeladler spaltet die Schweiz. Xhaka ist so sehr im Fokus wie noch nie zuvor.
Granit Xhaka kann sich nicht verbiegen. «Ich bin leider so, wie ich bin.» Bedeutet: Er nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht Dinge direkt an, Floskeln sind ihm fremd. In der Mixed Zone ist mit Xhaka immer die Hölle los, das ist durchaus positiv gemeint. Man darf seine Wortmeldungen einfach nicht verpassen. Zumal er sich den Journalisten eigentlich immer stellt, selbst dann, wenn sie ihn hässig gemacht haben.
EM-Achtelfinal 2021. 1:3 liegt die Schweiz gegen Frankreich nach 75 Minuten zurück. «Hoffentlich nicht noch ein 1:5 oder 1:6», denkt Vladimir Petkovic an der Seitenlinie. Die Hoffnung ist vernichtend klein. Aber die Schweiz rafft sich auf. Angeführt von Xhaka, der vielleicht die besten 45 Minuten seiner Länderspiel-Karriere zeigt. Erst der Ausgleich zum 3:3, dann der Sieg im Penaltyschiessen. Der historische Viertelfinal ist Tatsache. Xhaka stürmt im Jubel auf Petkovic zu. Später sagt er: «Endlich können wir ihm etwas zurückgeben!»
Es hätte in St.Petersburg das grösste Spiel der Karriere werden können, der EM-Viertelfinal gegen Spanien. Doch Xhaka verpasst diesen im Sommer 2021 wegen einer Gelbsperre, weil er im Achtelfinal gegen Frankreich den Schiedsrichter anmotzt und davor bereits gegen die Türkei wegen Meckerns verwarnt wird. Und was sagt der Captain? «Wir sehen uns im Halbfinal in London, da bin ich wieder dabei.»
Jüngst im Kosovo hat er Xhaka wieder gesagt, doch eigentlich sagt und fühlt er es seit Kindesbeinen. In seiner Brust schlagen zwei Herzen, jenes für die Schweiz, jenes für das Heimatland seiner kosovarischen Eltern, hier verbringt er ja auch immer einen Teil der Ferien. Das alles können gewisse Schweizer zwar nicht verstehen. Doch darf man nicht stolz und verbunden sein mit zwei Nationen?
Tatort Vilnius. Es ist der 14. Juni 2015, der Tag eines erknorzten 2:1 der Schweiz in der EM-Qualifikation in Litauen. Captain Gökan Inler wird erstmals ausgewechselt, Xhaka darf in die Mitte rücken. Am Tag darauf sagt Xhaka am Flughafen: «Irgendwann muss er sich entscheiden.» Es ist der Auftrag an Trainer Petkovic, die Frage zu lösen: Wer ist der Chef, Captain Inler oder doch eher Xhaka? Es ist der Anfang von Inlers Ende in der Nati.
Xhaka mag Ardon Jashari, er hegt und pflegt ihn in der Nati, hier steht der Junge unter seinem Schutz, weil sie ähnlich ticken und eine vergleichbare Geschichte haben. Das Jashari-Trikot nach dem Sieg gegen «Intimfeind» Serbien an der WM in Katar aber gleich zu dessen Ehren überstreifen? Wer einmal im Kosovo war, weiss, wie gross der andere Jashari, Adem, der UCK-Freiheitskämpfer ist. Wetten, Xhaka auch?
2022 soll es endlich klappen mit dem ersten WM-Viertelfinal. Am Ende bleibt nach der 1:6-Demütigung gegen Portugal nur der Frust. Xhakas dritte Niederlage in einem WM-Achtelfinal ist seine schlimmste in der Nati.
Ort des vielleicht emotionalsten Spiels seiner Nati-Karriere. Schweiz gegen Albanien. Granit gegen Taulant Xhaka. Erstmals überhaupt treffen zwei Brüder an einer EM aufeinander. Das Duell sorgt europaweit für Schlagzeilen. «Am besten wäre wohl, wir würden beide nach zwei Minuten die rote Karte sehen», sagt Granit spasseshalber im Vorfeld. Die Begegnung wird zum Fest. Granit gewinnt 1:0. Die EM endet trotzdem bitter, im Penaltyschiessen des Achtelfinals gegen Polen verschiesst er als einziger.
Modische Kleider haben es Xhaka längst angetan. Mit «Jojo», Johannes Ucan, einem eng befreundeten Designer aus St.Gallen für Massanzüge, gedeiht die Idee, ein eigenes Label zu gründen. Unkompliziert, leicht kombinierbar und aufregend sollen die Stücke sein, so der Slogan, als «GRAJO» im September auf den Markt kommt.
In Mönchengladbach reift er zum internationalen Topspieler. Und es kommt zu einer schicksalhaften Begegnung. Am Empfang des Vereins arbeitet Leonita Lekaj. Die beiden verlieben sich, gründen eine Familie. Die Töchter Ayana, 4, und Laneya, 2, vervollständigen das Familienglück. Im Sommer 2023 kehrt Xhaka nach NRW zurück, mit Bayer Leverkusen möchte er die Karriere krönen.
Ein Tattoo stechen lassen trotz Ausgangsverbot des Trainers? Haare färben zur Unzeit? Nicht impfen lassen gegen Corona? Xhaka liefert immer wieder Schlagzeilen abseits des Platzes. Er sieht sich dabei häufig nicht gerecht behandelt.
Sie teilen sich stets die Zimmer, und wenn das nicht geht und es Einzelunterkünfte gibt, dann ist ihnen die direkte Verbindungstüre überaus wichtig. Ricardo Rodriguez ist der beste Freund von Xhaka in der Nati, gemeinsam sind sie schon U17-Weltmeister geworden und haben zig Schlachten geschlagen, ihre Köpfe stecken seither zusammen, das Verständnis ist blind. Und Xhaka nennt «Rici» liebevoll «Pilz».
2014. 2016. 2018. 2021. 2022. Fünfmal in Serie qualifiziert sich die Nati für ein grosses Turnier und übersteht die Gruppenphase. Das gab es noch nie. Diese grossartige Konstanz ist auch sein Verdienst. Xhaka steht in den Achtelfinals immer in der Startformation.
118 Länderspiele hat Heinz Hermann für die Schweiz absolviert, das letzte 1991. Die Marke macht den heute 65-Jährigen zum Rekordhalter und zur Legende in dem kleinen Land. Nach so vielen Jahren ist es am Sonntag gegen Weissrussland nun so weit, dass ihn Xhaka mit 31 Jahren einholt, und den Bestwert hernach ausbauen wird. Dahinter in Lauerstellung: Xherdan Shaqiri mit 116 Länderspielen, Ricardo Rodriguez mit 110. Zwei mehr als Rodriguez hat der heute 62-jährige Alain Geiger.
Die Worte des damals noch jungen Xhaka vor der WM 2014 in Brasilien, er würde den Koffer mit Kleidern füllen, die bis zum Final reichen, sind legendär, nahezu schon ein geflügelter Satz. Man würde schnell dieses Attribut verwenden, wenn man den Basler mit einem Wort umschreiben müsste: «Selbstbewusst». Ausgeprägter könnte ein Selbstbewusstsein kaum sein, aber die Schwelle zur Arroganz überschreitet Xhaka nie.
Manchmal wünscht man sich, Xhaka ginge mehr in den Abschluss, versprühe noch mehr Torgefahr aus dem Mittelfeld. Aber das ist nicht seine primäre Aufgabe, obschon Xhaka in jedem Spiel gut für Zählbares sein kann. Bis dato hat er 14 Treffer im Natidress erzielt, wichtige sind darunter. Die Premiere gelingt ihm 2011 beim 1:0 im unbedeutenden Test gegen Luxemburg.
Ohne ihn geht es in der Nati nicht! Dieses Gefühl hat sich seit langer Zeit festgesetzt. So offensichtlich wie am 26. März 2019 ist es aber nie mehr. Die Schweiz führt gegen Dänemark 3:0. Xhaka wird ausgewechselt zehn Minuten vor Schluss. Am Ende steht es 3:3.
Die wichtigste Bezugsperson ist Vater Ragip, mittlerweile ist auch er ein bekannter Mann in der Schweiz. Man kennt die tragische Geschichte, dass Ragip als Student nach Demonstration unschuldig im alten, noch vereinten Jugoslawien ins Gefängnis gesteckt wurde - und hernach für eine bessere Zukunft der Familie in die Schweiz geht. Auch hat Granit einmal erzählt, dass der Vater ihn in seinen Jahren als Fussballprofi nie gelobt habe, getreu dem Motto: Es geht immer noch besser. Der Sohn hat es verinnerlicht.
Einmal noch den U17-Triumph mit der A-Nati wiederholen, natürlich. Wie das gehen könnte? Vielleicht mit Lucien Favre, dem alten Weggefährten aus Gladbacher Zeiten, als Trainer?
Mit Xherdan Shaqiri verbindet Xhaka heute eine positive Zweckgemeinschaft. Sie brauchen sich gegenseitig für den Erfolg, sind enge Wegbegleiter, aber keine Freunde. In den Anfangsjahren macht man gar eine tiefere Rivalität aus zwischen den beiden Platzhirschen auf dem Feld, vielleicht auch zwischen den Familien. Heute wirkt alles entspannter, umgänglicher. Und besonders nah stehen sie sich, wenn es an den WM-Endrunden 2018 und 2021 gegen Serbien geht.
Die Beziehung zum aktuellen Nationaltrainer ist etwas komplizierter als jene zu seinen Vorgängern Hitzfeld und Petkovic. Nie ist das so offensichtlich wie zuletzt im Kosovo, als Xhaka den Trainer vor laufenden Kameras frontal angreift. Die grosse Frage: Raufen sich die beiden tatsächlich noch einmal zusammen?
Xhaka hat den Wunsch, dereinst ein Team zu trainieren. Die B-Lizenz über den englischen Verband hat er bereits gemacht, derzeit ist er daran, dort via Fernstudium die A-Lizenz zu erwerben. Deshalb hospitiert der Fussballer kürzlich beim SC Union Nettetal, einem deutschen Oberligisten. Wohin der Weg als Trainer führen wird? Übernimmt er, ambitioniert wie Xhaka ist, dereinst gar die Nati? Ein Kreis würde sich schliessen. Doch zum Glück für die Schweiz ist Xhaka jetzt noch: unverzichtbarer Fussballer - und am Sonntag Rekordhalter.