Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die an Dramatik einem Theaterstück in nichts nachstehen. Eine solche Geschichte spielt sich derzeit in der Gemeinde Herrliberg an der Zürcher Goldküste ab. Zunächst einmal sollen hier die Figuren der Handlung eingeführt werden.
Die Lärmklagenden:
Die Betroffenen
Der Vorhang öffnet sich, die Geschichte beginnt. An ihrem Ende werden mehrere hundert Fussball-Junioren an einem feuchtkalten Dezemberabend um die Sportanlage Langacker marschieren, um für die Zukunft ihres Vereins zu demonstrieren. Wie konnte es soweit kommen? Das Drama beginnt vor sieben Jahren und zieht sich über fünf Akte hinweg.
April 2010. Am rechten Zürichseeufer hat der Frühling Einzug gehalten. In den gepflegten Gärten der Einfamilienhäuser am oberen Dorfrand von Herrliberg spriessen die Knospen. Auch beim Dorfverein, dem FC Herrliberg, ist die Hallensaison vorbei: Auf der Sportanlage Langacker wird wieder draussen Fussball gespielt.
Eines morgens finden die Quartierbewohner ein Schreiben in ihrem Briefkasten. Verfasser ist ein Rechtsanwalt aus Wettingen AG. Er vertrat bereits eine Anwohnergruppe in einem jahrelangen Rechtsstreit in Würenlos, wo die Gemeinde eine Fussball- und Rugby-Anlage ausbauen wollte. Beigelegt ist dem Brief eine Beitrittsanfrage für die «Interessengemeinschaft Lärmreduktion Sportplatz Langacker»
Auf Anfrage des Tages-Anzeigers sagt der Anwalt: «Niemand möchte den Vereinen ihren Spass nehmen». Er sei von einer Gruppe von Anwohnern beauftragt worden. «Wir möchten keine emotionale Diskussion für oder wider den Sport lostreten.» Ihm sei daran gelegen, den bestehenden Interessenkonflikt zu lösen.
Die IG habe bereits 10 Mitglieder. Er sei dabei, alle Antworten auszuwerten. Konkrete Forderungen gibt es noch keine. Der Jurist will sich als nächstes mit den Mitgliedern der IG zusammensetzen, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
Rund um die Sportanlage Langacker kehrt eine trügerische Ruhe ein. Der Amateurfussball schreibt seine Geschichten voller Siege und Niederlagen. Zwei Jahre hat die «IG Lärmreduktion Sportplatz Langacker» nichts von sich hören lassen. Das ändert sich 2012.
Rechtsanwalt R.v.d.B. reicht im Namen zweier Privatpersonen eine «Immissionsklage» gegen die Gemeinde Herrliberg ein. Die beiden scheinen die letzten Verbliebenen der einst angeblich 10 Mitglieder zählenden Interessengemeinschaft zu sein.
Der eine, Bauunternehmer C.S., lebt in der Villa ganz oben am Hang, wo das Siedlungsgebiet von Herrliberg endet und die Äcker und Felder am Fusse des Pfannenstiels beginnen. Das Anwesen wird noch immer vom Schild der «Wirtschaft zur Frohen Aussicht» geschmückt, die sich früher an diesem Ort befand.
2003 besucht ein Journalist der «NZZ am Sonntag» die Villa. Er schreibt ein Portrait über die mit Glück und Geld gesegnete Gemeinde. «Klar, dass ich die beste Aussicht habe. Und vor allem habe ich die Badewanne mit der besten Aussicht von ganz Herrliberg, ehrlich», sagt C.S. Begeistert ist er auch von den drei Kuhfladen aus Gold, die er einem Künstler abgekauft hat.
Mit der «Immissionsklage» befasst sich zunächst die Baukommission der Gemeinde Herrliberg. Sie beauftragt eine externe Firma, ein Lärmgutachten zu erstellen, wie der Tages-Anzeiger (kostenpflichtiger Artikel) berichtet. Das Gutachten entlastet den Fussballclub.
In Juristendeutsch lautet die Schlussfolgerung: «Die Richtwerte gemäss Vollzugshilfe für die Beurteilung der Lärmbelastung von Sportanlagen vom Bundesamt für Umwelt werden grösstenteils eingehalten oder nur innerhalb der Anlage überschritten.»
Trotzdem geben die Gutachter einige Empfehlungen ab, wie die unerwünschten Lärmemissionen reduziert werden können. Die Baukomission erlässt Richtlinien. Dahinter steckt auch die Absicht, die Kläger von einem Weiterzug an die nächste Instanz abzubringen und einen jahrelangen Rechtsstreit zu verhindern.
Ab 2015 setzt der FC Herrliberg die Empfehlungen der Baukommission um. Er verzichtet unter der Woche auf Meisterschaftsspiele der Herren. Nach 20 Uhr sind auf der Sportanlage Langacker keine Schiedsrichterpfiffe mehr zu hören. Und am Sonntag wird über Mittag von 12:15 Uhr bis 13:45 eine Spielpause eingelegt.
Rechtsanwalt R.v.d.B. und seine Mandanten C.S. und B.v.W. sind nicht zufrieden mit dem Entscheid der Baukomission. Die dem FC Herrliberg auferlegten Einschränkungen seien «reine Kosmetik». Sie ziehen den Fall weiter ans Baurekursgericht. Dieses weist die Einsprache vollumfänglich ab. Die Begründung: «Es gibt keinen absoluten Anspruch auf Ruhe.» Geringfügige Störungen seien hinzunehmen und die von der Baukommission veranlassten Massnahmen ausreichend.
Doch Bauunternehmer C.S. und Zweitliegenschaftsbesitzer B.v.W. wollen nicht aufgeben. Sie ziehen den Fall ans Verwaltungsgericht. Doch auch das kommt zum selben Schluss wie die Vorinstanz. Also ziehen die Kläger den Fall weiter, diesmal vors Bundesgericht in Lausanne.
Ironischerweise ärgerte sich C.S. im Tages-Anzeiger einst über die Rekursfreudigkeit von Anwohnern bei Bauprojekten an der Goldküste: «Wäre hier nicht so viel Geld vorhanden, würde nicht so oft Einsprache eingereicht.» Da bei einer Niederlage vor Gericht die Kosten beim Einsprechenden anfielen, überlegten sich «einkommensschwächere Personen deswegen zweimal, ob sie über die Gemeindeebene hinaus Rekurs einlegen oder nicht.» Selber mit einem ausreichenden finanziellen Polster ausgestattet, macht sich C.S. diese Überlegungen offensichtlich nicht.
Der Gang vors höchste Gericht des Landes kommt im Dorf an der Goldküste schlecht an. Vereinsmitglied Peter Junker macht seinem Ärger in einem offenen Brief Luft. Das Schreiben wird auf dem Portal regional-fussball.ch veröffentlicht und x-fach geteilt.
«Sie wissen haargenau, welche Auswirkungen ein Erfolg Ihrer Klage vor Bundesgericht hätte», wirft Junker C.S. vor: Schweizweit müssten unzählige Vereine ihren Betrieb reduzieren oder gar einstellen.
«Es ist ein Kampf des Neo-Feudalismus gegen 300‘000 Fussballer in der Schweiz, davon mehr als 80 Prozent Mädchen, Buben und Jugendliche», empört sich Junker. «Zwei Herrliberger gegen etwa 250'000 Kinder und Jugendliche! Doch es ist für Sie selbstverständlich, Ihre eigenen Interessen derart unverschämt in den Vordergrund zu stellen.»
Am heutigen Mittwoch hat der FC Herrliberg zu einem Protestmarsch auf die Sportanlage Langacker geladen. Geschäftsführer Benjamin Benz sagt gegenüber watson, er rechne mit 400 bis 800 Teilnehmern: «Wir erwarten Junioren, Eltern, Vereinsmitglieder und externe Unterstützer». Der Verein serviert heissen Punsch und Wienerli.
Mit dem Anlass wolle man nicht aufs Urteil einwirken, sagt Benz: «Das Bundesgericht lässt sich dadurch sicher nicht beeinflussen». Es gehe darum – auch mithilfe der Medienberichterstattung – ein Zeichen zu setzen, das in der ganzen Schweiz gesehen werde.
Bereits jetzt sei man bei Spielterminen unter der Woche darauf angewiesen, die Partien auswärts bestreiten zu können – oder müsse eine Sonderbewilligung einholen. Eine weitergehende zeitliche Begrenzung des Spielbetriebs würde wohl das Ende für 200 bis 300 Junioren bedeuten: «Sie stünden von heute auf morgen ohne Verein da.»
«Sollten sich die Kläger mit ihren Vorstellungen durchsetzen können, wäre das ein verheerendes Signal für die fast 300'000 lizenzierten Fussballer in der Schweiz», sagt Geschäftsführer Benz.
Noch ist nicht bekannt, wann das Bundesgericht in der Causa FC Herrliberg sein Urteil fällen wird. Erst dann fällt der letzte Vorhang in diesem Drama.