Am Freitagmittag liegt über dem Lötschental eine bedrückende Stille. Eine, die nur gelegentlich vom Läuten der Kirche und von Helikopterlärm durchbrochen wird. Das Lötschental trauert um Blatten.
«Allen geht es scheisse», sagt ein junger Mann in Ferden, der auf einem Parkplatz darauf wartet, dass ihn jemand abholt. Wer nicht gerade sein Haus evakuiert, macht sich von den Dörfern Ferden, Kippel und Wiler auf den Weg das Lötschental hinauf.
Rentnerinnen und Rentner, Familien, Jugendliche auf Velos, Hundehalterinnen und -halter – alle haben dasselbe Ziel: einen Hügel, von welchem aus man über die braune Fläche schauen kann, wo einst das 300-Seelendorf Blatten war. Der «Ground Zero von Blatten», wie es Gemeindepräsident Matthias Bellwald später an der Medienkonferenz nennen wird.
Blatten, das gibt es nicht mehr. Und wer es bis jetzt nicht glauben konnte, muss es selbst zu Gesicht bekommen. Hier oben. Mit offenem Mund und feuchten Augen. «Auch wenn es vielen nicht guttut», wie es ein Jugendlicher ausdrückt.
Der Hügel wird zum inoffiziellen Treffpunkt von Menschen, die in den letzten 48 Stunden alles verloren haben, was sie nicht auf sich tragen konnten. Ihnen zur Seite stehen die restlichen Lötschentalerinnen und Lötschentaler. Schweigend. Nickend. Ungläubig den Kopf schüttelnd. Indem sie ihnen mit lieben Worten zureden. Oder mit einer Umarmung Trost spenden.
Die Bewohnerinnen und Bewohner der Dörfer Wiler, Kippel und Ferden sind für die Blatterinnen und Blatter da. Auch wenn sie selbst in Sorge darum sind, dass eine Flutwelle einen Teil ihres Dorfes wegschwemmen könnte. Weil sich der Fluss Lonza wegen des Gletschersturzes staut und sich der Damm aus Geröll lösen könnte.
Plötzlich durchbricht das Rattern eines Rasenmähers die angespannte Stille in Kippel. Xaveria Rieder mäht die Wiese vor ihrem Holzhaus. «Mich im Garten zu beschäftigen, lenkt mich ab», sagt sie. Tränen steigen ihr in die Augen. Doch die Rentnerin weint nicht. Sie lächelt.
Die letzten Tage seien emotional gewesen. Ihr Enkel habe sie angerufen, als «der Berg kam». Sie sei umgehend auf den Balkon gerannt. Sie habe nur Dreck und eine riesige Staubwolke gesehen. Und über dem ganzen Tal sei der Geruch von sumpfiger Erde und altem Holz gelegen.
Rieder ist im Lötschental aufgewachsen. Sie kannte Blatten gut. «Man ist immer durchs Dorf gelaufen und hat da und dort Hallo gesagt.» Das Leid der Blatterinnen und Blatter geht ihr sehr nahe.
Im Haus, das einst ihr Vater erbaut hat, hat sie eine Familie aus Blatten aufgenommen. Die Wohnsituation sei nicht optimal. Die Familie könne im oberen Stock wohnen, habe ein Schlafzimmer und ein eigenes Bad. Die Küche müsse man sich aber teilen.
«Auf lange Sicht ist das für sie sicher nicht angenehm», sagt Rieder. Deshalb besichtige die Familie heute eine Wohnung in einem Nachbarort. Und es sehe alles danach aus, als könnten sie bald einziehen. Darüber freut sich Rieder sehr.
Hat sie keine Angst, ihr eigenes Haus verlieren zu können? «Nein, ich glaube fest, dass die Flutwelle nicht kommen wird», sagt Rieder. Sie liest die Inschrift auf ihrer Hauswand vor, die einst ihr Vater ins Holz eingraviert hatte:
Dann läuft Rieder zurück zu ihrem Rasenmäher. Und macht sich mit den Worten «Ein schöner Garten hilft auch, positiv zu bleiben», wieder ratternd an die Arbeit.
Aber nicht nur Rieder zeigt sich optimistisch. Auch die Behörden. Wenn auch nur «vorsichtig optimistisch», dass keine Flutwelle kommen wird. Und dass das Lötschental das Schlimmste hinter sich hat.