Schweiz
Wallis

Bergsturz in Blatten: Anwohnerin beherbergt eine betroffene Familie

Video: watson/aylin erol, ralph steiner, lucas zollinger

«Das hätte ich mir nie im Leben vorstellen können, es war verrückt und schlimm»

Das Lötschental steht noch immer unter Schock. Und doch hat es Platz für vorsichtigen Optimismus. Seitens der Behörden, aber auch einer Anwohnerin.
30.05.2025, 20:2031.05.2025, 13:11
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Am Freitagmittag liegt über dem Lötschental eine bedrückende Stille. Eine, die nur gelegentlich vom Läuten der Kirche und von Helikopterlärm durchbrochen wird. Das Lötschental trauert um Blatten.

«Allen geht es scheisse», sagt ein junger Mann in Ferden, der auf einem Parkplatz darauf wartet, dass ihn jemand abholt. Wer nicht gerade sein Haus evakuiert, macht sich von den Dörfern Ferden, Kippel und Wiler auf den Weg das Lötschental hinauf.

Rentnerinnen und Rentner, Familien, Jugendliche auf Velos, Hundehalterinnen und -halter – alle haben dasselbe Ziel: einen Hügel, von welchem aus man über die braune Fläche schauen kann, wo einst das 300-Seelendorf Blatten war. Der «Ground Zero von Blatten», wie es Gemeindepräsident Matthias Bellwald später an der Medienkonferenz nennen wird.

Treffpunkt des Trostes

Blatten, das gibt es nicht mehr. Und wer es bis jetzt nicht glauben konnte, muss es selbst zu Gesicht bekommen. Hier oben. Mit offenem Mund und feuchten Augen. «Auch wenn es vielen nicht guttut», wie es ein Jugendlicher ausdrückt.

Der Hügel wird zum inoffiziellen Treffpunkt von Menschen, die in den letzten 48 Stunden alles verloren haben, was sie nicht auf sich tragen konnten. Ihnen zur Seite stehen die restlichen Lötschentalerinnen und Lötschentaler. Schweigend. Nickend. Ungläubig den Kopf schüttelnd. Indem sie ihnen mit lieben Worten zureden. Oder mit einer Umarmung Trost spenden.

Die Geröllmasse, die das Dorf Blatten unter sich begraben hat.
Blick vom «Solidaritätshügel» auf das Geröll, unter dem sich die Überreste von Blatten befinden.bild: watson/ralph steiner

Die Bewohnerinnen und Bewohner der Dörfer Wiler, Kippel und Ferden sind für die Blatterinnen und Blatter da. Auch wenn sie selbst in Sorge darum sind, dass eine Flutwelle einen Teil ihres Dorfes wegschwemmen könnte. Weil sich der Fluss Lonza wegen des Gletschersturzes staut und sich der Damm aus Geröll lösen könnte.

Anwohnerin beherbergt Familie aus Blatten

Plötzlich durchbricht das Rattern eines Rasenmähers die angespannte Stille in Kippel. Xaveria Rieder mäht die Wiese vor ihrem Holzhaus. «Mich im Garten zu beschäftigen, lenkt mich ab», sagt sie. Tränen steigen ihr in die Augen. Doch die Rentnerin weint nicht. Sie lächelt.

Die letzten Tage seien emotional gewesen. Ihr Enkel habe sie angerufen, als «der Berg kam». Sie sei umgehend auf den Balkon gerannt. Sie habe nur Dreck und eine riesige Staubwolke gesehen. Und über dem ganzen Tal sei der Geruch von sumpfiger Erde und altem Holz gelegen.

Xaveria Rieder im Lötschental leidet mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Blatten mit.
Xaveria Rieder im Lötschental leidet mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Blatten mit.bild: watson

Rieder ist im Lötschental aufgewachsen. Sie kannte Blatten gut. «Man ist immer durchs Dorf gelaufen und hat da und dort Hallo gesagt.» Das Leid der Blatterinnen und Blatter geht ihr sehr nahe.

Im Haus, das einst ihr Vater erbaut hat, hat sie eine Familie aus Blatten aufgenommen. Die Wohnsituation sei nicht optimal. Die Familie könne im oberen Stock wohnen, habe ein Schlafzimmer und ein eigenes Bad. Die Küche müsse man sich aber teilen.

«Auf lange Sicht ist das für sie sicher nicht angenehm», sagt Rieder. Deshalb besichtige die Familie heute eine Wohnung in einem Nachbarort. Und es sehe alles danach aus, als könnten sie bald einziehen. Darüber freut sich Rieder sehr.

Ferden
Der Rasenmäher steht bereit.Bild: watson/ aylin erol

Hat sie keine Angst, ihr eigenes Haus verlieren zu können? «Nein, ich glaube fest, dass die Flutwelle nicht kommen wird», sagt Rieder. Sie liest die Inschrift auf ihrer Hauswand vor, die einst ihr Vater ins Holz eingraviert hatte:

«Alles welkt und wird zu Staube, nur nicht Hoffnung, Liebe, Glaube.».

Dann läuft Rieder zurück zu ihrem Rasenmäher. Und macht sich mit den Worten «Ein schöner Garten hilft auch, positiv zu bleiben», wieder ratternd an die Arbeit.

Aber nicht nur Rieder zeigt sich optimistisch. Auch die Behörden. Wenn auch nur «vorsichtig optimistisch», dass keine Flutwelle kommen wird. Und dass das Lötschental das Schlimmste hinter sich hat.

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Gletscherabbruch in Blatten VS
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Gletscherabbruch in Blatten VS

Der Fluss Lonza ist vom Geröll vollständig aufgefüllt worden. Das Wasser staut sich nun in einem entstandenen See auf.

quelle: keystone / jean-christophe bott
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«Ich konnte den Staub schmecken» – Anwohnerin berichtet vom Gletschersturz in Blatten
Video: watson
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7 Kommentare
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Namenloses Elend
30.05.2025 22:44registriert Oktober 2014
Trotz aller Tragödie auch mal Chapeau an die Behörden. Rechtzeitig die Gefahr erkannt und das gesamte Dorf evakuirt. Man stelle sich nur vor, die Einwohner wären dageblieben. 🙈🙈
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Zum Kommentar
7
    So kannst du den Bergsturz-Betroffenen im Wallis helfen
    Der Worst Case in Blatten im Walliser Lötschental ist eingetreten. Geröllmassen eines nahegelegenen Gletschers haben das Dorf unter sich begraben. So kannst du dem Bergdorf nun helfen.

    Am 19. Mai wurden die Anwohnenden von Blatten VS evakuiert, weil sich der Berg oberhalb des Dorfes stark bewegt hatte und jederzeit mit einem grossen Bergsturz gerechnet werden musste. Neun Tage später, am 28. Mai, ist dann das befürchtete Szenario eingetreten: Geröllmassen am Kleinen Nesthorn lösten sich und stürzten gemeinsam mit Teilen des Birchgletschers ins Lötschental.

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