Roche-Chef Thomas Schinecker greift zum Skalpell. Dieses Bild verwendet er gerne, wenn er über seine neue Strategie spricht. Mit einigen präzisen chirurgischen Schnitten möchte der 49-jährige seinen träge gewordenen Pharmakonzern von unnötigem Ballast befreien. Und davon hat sich bei einer Firma, die rund 60 Milliarden Franken Umsatz macht und mehr als 100'000 Mitarbeitende weltweit beschäftigt, einiges angesammelt.
Da sind zum Beispiel Medikamente, an denen trotz wenig Aussicht auf Erfolg noch jahrelang getüftelt wird.
Da sind klinische Studien, die zu lange dauern und schliesslich enttäuschende Ergebnisse liefern. Ein Beispiel dafür war ein Alzheimer-Wirkstoff, der 2022 floppte.
Da sind unzählige Software-Lösungen, die sich überschneiden und unnötige Kosten verursachen.
Bei einem so grossen Unternehmen wie Roche ist es wenig überraschend, dass sich mit den Jahren undurchschaubare Strukturen und Doppelspurigkeiten anstauen. Doch bisher hatte die Roche-Führung offenbar keinen Druck verspürt, die internen Königreiche und Leerläufe anzugehen. Das hat sich mit dem Antritt von Thomas Schinecker geändert. Im März 2023 übernahm der Österreicher von Langzeit-CEO Severin Schwan. Angesichts der enttäuschenden Kursentwicklung an der Börse sah sich der Neuling gezwungen, zu handeln.
Im Vergleich zur Konkurrenz hat Roche ein grosses Problem: Die Firma kann nur auf überschaubaren Nachschub bei neuen Medikamenten zurückgreifen. Umso wichtiger ist es für den Konzern, in den nächsten Jahren mit neuen Blockbustern, wie es im Jargon heisst, aufzuwarten. Immerhin: Selbst bei weiteren Forschungsflops rechnet Roche damit, seine Margen und Umsätze halten zu können. Eine sogenannte «Patentklippe» mit auslaufenden Rechten muss Roche derzeit nicht fürchten.
Dennoch erwarten die Investoren Wachstum. Und das ist bei einem Konzern mit einem Umsatz von 60 Milliarden gar nicht so einfach. Mit der neuen Pharmastrategie, die die Roche-Führung am Montag in London enthüllte, versucht Schinecker nun Gegensteuer zu geben.
Sein Skalpell setzt er zuerst bei den Therapiegebieten an. Künftig will sich Roche in seiner Forschung auf fünf Bereiche konzentrieren, bei denen in den kommenden Jahren die grösste Krankheitslast anfällt – und die grössten Profitmöglichkeiten locken. Dies sind die Neurologie, Onkologie, Augenkrankheiten, Immunologie sowie Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen.
Innerhalb dieser Therapiegebiete fokussiert sich Roche auf elf Krankheiten. Dazu gehören etwa in der Neurologie Alzheimer und Multiple Sklerose, in der Onkologie sind es Brustkrebs oder Lungenkrebs. Zudem wollen die Basler auch im Multi-Milliardenmarkt der Abnehmmedikamente aufholen.
An den Fettweg-Spritzen lässt sich exemplarisch zeigen, wie die Roches Pharmastrategie funktionieren soll. Massgebend für die Forschung sind künftig nicht nur die genannten Therapiegebiete. Entscheidend ist auch die sogenannte Bar, also eine interne Messlatte für neue Medikamente. Diese Hürde muss eine Therapie überspringen, damit sie überhaupt weiterverfolgt wird. Andere Projekte, die die gesteckte Messlatte nicht erreichen, werden beerdigt.
Die neu definierte Messlatte ist hoch: So muss ein künftiges Medikament nicht nur ein bisher vernachlässigtes Patientenbedürfnis abdecken, es soll sich auch deutlich von der Konkurrenz abheben. Und es muss Wertschöpfung bringen, also ausreichend Rendite.
Die Fettweg-Spritze mit dem sperrigen Namen CT-388 erfüllt diese Kriterien. Sie hat aus Sicht von Roche das Potenzial, dereinst die Konkurrenzprodukte zu überflügeln. Es besteht die Hoffnung, dass Patienten mit der Spritze einen Gewichtsverlust von bis zu 25 Prozent erzielen können. Damit wäre das Mittel effektiver als die bisher führenden Konkurrenzprodukte.
Gleichzeitig adressiert Roche mit seiner Lösung ein relevantes gesundheitliches Problem, da im Jahr 2030 fast die Hälfte der Weltbevölkerung übergewichtig sein wird. Und das Mittel lässt sich, so zumindest die Hoffnung, gut verkaufen: Der Markt für Fettweg-Spritzen wächst laut Schätzungen bis 2030 auf 100 Milliarden Dollar.
Es sind solche Wirkstoffe, die mit der neuen Pharmastrategie nun den Vorrang bekommen. Die zuständigen Roche-Wissenschafter erhalten alle nötigen Ressourcen dafür, um ihre klinischen Studien zum Abnehmmittel rasch voranzutreiben. Derzeit läuft die zweite klinische Studie für CT-388. Ebenfalls Priorität räumt die Firma vielversprechenden Medikamenten wie dem Alzheimer-Mittel Trontinemab oder einem Mittel gegen entzündliche Darmkrankheiten wie Colitis Ulcerosa ein.
Auch wenn Roche seine Kräfte bündelt, bleibt man von Rückschlägen nicht verschont, etwa bei seinem Abnehmpräparat in Pillenform: Dieses bescherte den Probanden zwar einen Gewichtsverlust von 6,1 Prozent innert vier Wochen. Doch alle 25 Teilnehmer der Studie klagten über Nebenwirkungen wie Verdauungsbeschwerden. Und bei einigen führte die Therapie zu einem erhöhten Puls.
Davon lässt sich Roche aber nicht beirren. Bei Konkurrenzprodukten waren im selben Entwicklungsstadium ähnliche Nebenwirkungen aufgetreten, so das Argument. Es ist gut möglich, dass die Forschung an der Pille ganz im Sinne der neuen Strategie ebenfalls auf «fast track» umgestellt wird. Schliesslich ist es in diesem umkämpften Markt entscheidend, der erste mit einem neuartigen Produkt zu sein.
Thomas Schinecker ist überzeugt, dass der Milliardenkonzern mit einem geschärften Fokus bessere Resultate erzielen kann. Denn das eingesparte Geld will er in die aussichtsreichsten Medikamente investieren. Dabei lässt er die Personaldecke unangetastet, auch an den Schweizer Standorten. Allerdings müssen sich die Angestellten auf Verschiebungen gefasst machen. Wenn sie in Bereichen arbeiten, die nicht als zukunftsfähig erachtet werden, müssen sie sich nach Jobs in den aufstrebenden Sparten umschauen und sich dort bewerben.
Kann der Plan aufgehen? Thomas Schinecker selbst ist davon überzeugt. Schliesslich hat er als Chef der Diagnostiksparte sein Skalpell schon einmal erfolgreich angesetzt. Vor vier Jahren schnitt er dort vier Hierarchiestufen weg oder dampfte acht Forschungsbereiche auf zwei ein. Roche sparte so 500 Millionen Franken, die wiederum in Forschung und Entwicklung flossen.
Jetzt muss Schinecker beweisen, dass dies auch bei den Medikamenten funktioniert. (aargauerzeitung.ch)