Kaum ein Thema ist so emotional aufgeladen wie der Fleischkonsum. Vegetarisch, vegan, flexitarisch, pescetarisch – mit fleischlosen Lebensstilen erntet man in den richtigen Kreisen viel Applaus, in anderen hingegen Spott und Häme. Viele Studien deuten darauf hin, dass Menschen einen emotionalen und ethischen Konflikt spüren, wenn es um Fleischkonsum geht. Doch meistens legitimiert man das Pouletbrüstli mit gesellschaftlich gewachsenen Rechtfertigungen. Es ist gesund, lecker, kulturell verankert – die meisten essen halt Fleisch.
Das bestätigen auch die Statistiken zum Fleischkonsum in der Schweiz: Dieser hat sich in den letzten 25 Jahren kaum verändert – trotz vermeintlichem Vegi-Boom und gestiegenem Umweltbewusstsein. Zum ersten Mal in fünf Jahren ist er 2021 sogar wieder gestiegen, auf rund 52 Kilogramm pro Person. Zudem wird wieder mehr Fleisch aus dem Ausland gegessen: Es wurden 4,1 Prozent oder 3917 Tonnen mehr Fleisch importiert als im Vorjahr.
Damit nicht genug: der Anteil von tierfreundlich produziertem Fleisch nahm in der gleichen Zeitspanne ab. Herr und Frau Schweizer assen letztes Jahr weniger Bio- und anderes Labelfleisch, dafür umso mehr konventionell produzierte Ware. Das zeigen Zahlen, die der Schweizer Tierschutz (STS) letzte Woche veröffentlichte.
Bei den Kühen etwa nahm der Anteil von Labelfleisch von 36,6 Prozent im Jahr 2019 auf 31,9 Prozent ab, bei den Mastschweinen von 35 auf 30,5 Prozent. Bei den Mastpoulets führt die tierfreundliche Produktion nach wie vor ein Nischendasein.
Ganz egal, ob oder wie viel Fleisch man isst: Diese Zahlen sind problematisch. Massentierhaltung und Fleischproduktion sind massgeblich für die Erzeugung von klimaschädlichen Gasen verantwortlich. 85 Prozent der Treibhausgasemissionen in der Schweizer Landwirtschaft gehen auf das Konto der Tierhaltung. Für Futter- und Fleischproduktion werden international riesige Waldflächen gerodet. Für Klimaschutz und Tierwohl wäre es deswegen dringend notwendig, dass einerseits weniger Fleisch produziert und konsumiert wird, andererseits das noch produzierte Fleisch aus nachhaltiger Quelle stammt.
Wieso aber geschieht weder das eine, noch das andere?
Dass der Fleischkonsum momentan steigt, ist vielleicht eine etwas übertriebene Behauptung. «Der Anstieg im letzten Jahr liegt im normalen Schwankungsbereich», sagt etwa Regula Kennel von Proviande, der Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft. Diese Schwankungen sehe man jedes Jahr.
Tatsächlich bewegte sich der Konsum in den letzten Jahren nur marginal. 2021 ass man in der Schweiz praktisch gleich viel Fleisch wie 1997. Zwischenzeitlich ging der Konsum um ein bis zwei Kilo runter, dann wieder hoch (siehe erste Grafik). Nach Gründen zu suchen, wieso der Verbrauch letztes Jahr um ein Kilo stieg, ist der Sache nicht dienlich.
Viel mehr sollte man sich die Frage stellen: Wieso sinkt der Pro-Kopf-Verbrauch auf lange Sicht nicht?
Auch hier sind die möglichen Gründe mannigfaltig, je nach dem, wen man fragt. Proviande stützt sich auf die Eigenverantwortung der Konsumenten. Hauptsache, das Fleisch stammt aus der Schweiz. «Jeder soll sich selbst informieren, Verantwortung übernehmen, aber selbst entscheiden, was er essen möchte», sagt Regula Kennel.
Diese Strategie hat bis jetzt lediglich dazu geführt, dass sich der Fleischkonsum verlagert hat – zu «gesünderen» Stücken. So sank der Verzehr von Schweinefleisch in den letzten 40 Jahren von 33 Kilogramm auf 21 pro Person und Jahr. Gleichzeitig stieg Pouletverbrauch von sechs Kilo auf knapp 15. Der Rindfleischverbrauch blieb hingegen in den letzten 14 Jahren konstant.
Umweltschutzorganisationen und Grüne geben hingegen der Politik die Schuld. Nach wie vor unterstützt der Bund im Rahmen seiner Absatzförderung die Marketingkommunikation von Proviande mit einem jährlichen Beitrag von fast sechs Millionen Franken. Der Bundesrat hat in den letzten Jahren wiederholt dargelegt, dass er diese Praxis weiterführen will, «zwecks Schaffung einer Konsumpräferenz gegenüber ausländischem Fleisch».
Mit dieser Absatzförderung des Bundes würden dann ausufernde Rabattschlachten im Detailhandel ausgetragen, «konventionelles Fleisch wird so stark gefördert, dass den Leuten das Fleisch fast nachgeworfen wird», sagt Stefan Flückiger, Geschäftsleiter Agrarpolitik beim Schweizer Tierschutz STS. Der Bund fördere also noch die Tiefpreisstrategie der Händler beim konventionellen Fleisch.
Landwirtschaft, Konsum, Politik oder Detailhandel: Die Verantwortung wird weitergereicht wie eine heisse Kartoffel. Das dürfte als Grund schon reichen, wieso der Fleischkonsum nicht sinkt.
Konkreter wird es, wenn man sich den sinkenden Labelanteil genauer anschaut. Wie bereits dargelegt, ist der konstante Fleischverbrauch nicht der einzige bedenkliche Trend. Auch der Anteil an tierfreundlich produzierter Ware sinkt.
Organisationen wie der STS, aber auch Ökonomen wie Mathias Binswanger von der Fachhochschule Nordwestschweiz sehen hier die grossen Detailhändler Migros und Coop in der Verantwortung. Diese würden überhöhte Margen bei Labelfleisch einstreichen und dabei ihre Vormachtstellung im Lebensmittelmarkt ausnutzen. Das Labelfleisch sei für die «Premium-Kunden» bestimmt, mithilfe welcher man den Preiskampf beim konventionellen Fleisch quersubventioniere. Tatsächlich kosten Bio-Fleisch und Co. teilweise mehr als doppelt so viel wie herkömmlich produzierte Ware.
Abschliessend beweisen lässt sich der Vorwurf nicht. Verschiedene Untersuchungen stützen die These jedoch. Da wäre zum Beispiel eine Studie von Agroscope aus dem Jahr 2020. Diese zeigt auf, dass die Bauern nur ungenügend für den Mehraufwand entschädigt werden, den höhere Tierwohlstandards mit sich bringen. Für Label- und Biofleisch erzielen die Produzenten nur einen mariginal höheren Preis. Demgegenüber stehen höhere Strukturkosten für Gebäude und Stroh sowie ein höherer Arbeitszeitbedarf.
Die Bauern haben also kaum was von den riesigen Preisunterschieden zwischen konventionellem Fleisch und Labelprodukten.
Bleiben noch zwei weitere Stufen: die Verarbeitung und die Verteiler.
Auf Stufe Verarbeitung hat der STS 2020 gemeinsam mit Experten des Fleischfachverbands eine Marktanalyse durchgeführt. So wurden die Einstandspreise für das Schlachten und Zerlegen der Tiere in den jeweiligen Produktkategorien berechnet. Subtrahiert man den Produzentenpreis und den Verarbeitungspreis vom Verkaufspreis, so erhält man schliesslich den Betrag, der für den Detailhandel übrig bleibt. Das sieht folgendermassen aus:
Es zeigt sich, dass die Margen für Label- und Bioprodukte im Gegensatz zu konventionellem Fleisch um ein Vielfaches höher sind. So liegt die Bruttomarge bei konventionell hergestellten Rindsplätzli zum Beispiel bei durchschnittlich 47 Prozent. Bei Labelfleisch wie jenes von IPSuisse oder Naturafarm liegt sie bei 144 Prozent, bei Bioprodukten bei 136 Prozent. Die Konsumenten sind anscheinend nicht bereit, diese Preise zu bezahlen und so sinkt auch die Produktion.
Sowohl Migros als auch Coop dementieren die Vorwürfe vehement. Man wäre gar nicht konkurrenzfähig, die Kunden würden überteuerte Produkte sofort erkennen, sagt zum Beispiel die Migros. Bei Coop heisst es ebenfalls auf Anfrage, dass man nicht mehr an Labelprodukten verdiene. Die höheren Preise wären bedingt durch zusätzliche Kosten für Warenflusstrennung, Kontrollen, Zertifizierung, Rückverfolgbarkeit und Vermarktungsmassnahmen.
Wie hoch diese zusätzlichen Kosten sein sollen, darüber schweigt man sich aus. Stefan Flückiger vom STS hält da dagegen: «Diese Kosten können allenfalls im Rappenbereich vorhanden sein.» Würden die Margen prozentual berechnet, wie dies im Detailhandel üblich sei, dann würde das höhere Preisniveau diese Zusatzaufwände bereits vollumfänglich decken. «Es ist also keine Erklärung für die hohen Preisdifferenzen zwischen konventionellem und Label- und. Biofleisch», so Flückiger. Die Preisschere halte viele davon ab, tierfreundlich erzeugte Produkte zu kaufen.
Auch der Ökonom Mathias Binswanger von der Fachhochschule Nordwestschweiz glaubt nicht, dass höhere Zusatzkosten der alleinige Grund für die grossen Preisunterschiede sei: «Die Detailhändler müssen höhere Margen erzielen, anders lassen sich die Preisunterschiede nicht erklären», sagt er.
Weitere Unterstützung erhält die These von einer Analyse der NZZ. Darin wird aufwändig dargelegt, dass Coop und Migros im Vergleich zu Discountern und anderen Detailhändler aus Österreich und Deutschland mit Abstand die grössten Margen berechnen. Die Autoren kommen deswegen zum Schluss, dass der Wettbewerb im Lebensmittelhandel zumindest «zu wünschen übrig lässt».
An dieser Stelle soll gesagt sein, dass es den grossen Detailhändlern grundsätzlich erlaubt ist, die Margen nach ihrem Gutdünken festzulegen, solange der Wettbewerb frei spielen kann. Den Schweizer Klimazielen wäre ein solches Vorgehen bei Labelfleisch allerdings wenig dienlich. Auch würde es nicht zu dem grünen Image passen, dass sich Migros und Coop gerne auf die Fahne schreiben.
Dabei zeigt eine weitere Studie von Agroscope, dass sich Verbraucher durchaus nachhaltig ernähren wollen. Allerdings sind sie sehr preissensitiv. Das heisst: Wenn sich das Preisgefälle zum konventionell produzierten Fleisch verringert, wird Label-Fleisch konkurrenzfähiger. Sänke der Preis um 20 Prozent, stiege der Absatz zum Beispiel beim Biorind um 50 Prozent, beim Bioschwein um 60.
Nun bedeutet eine tierfreundliche Produktion aber nicht unbedingt weniger CO₂-Emissionen. In einer idealen Welt würde man den Fleischkonsum allerdings um mindestens die Hälfte reduzieren und nur noch biologisch produzierte Ware essen. Wie der Fleischkonsum jedoch verringert werden soll, bleibt eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit.
Dabei hat man die theoretischen Lösungen längst gefunden: Eine Verringerung der Tierbestände, weniger Subventionen für die Produktion und Vermarktung, Anpassung der landwirtschaftlichen Strukturen an eine vermehrt pflanzenbasierte Ernährung. Es ist nachgewiesen, dass diese Massnahmen mit grossem Abstand das grösste Einsparungspotenzial an Treibhausgasen haben.
Diese Massnahmen berücksichtigen jedoch nicht die emotionale Bindung und die kulturelle Verankerung, die unsereins mit Fleisch hat. Nicht nur bei den Konsumenten auf dem Teller, sondern auch bei den Bauern, in der Verarbeitung, im Detailhandel – Fleisch ist ein Milliardengeschäft.
Zudem wäre eine solche Umstrukturierung auch aus sozialpolitischer Sicht heikel. Denn sie würde unweigerlich dazu führen, dass die Preise steigen. Folglich entsteht ein ethisches Dilemma: Finanziell gut gestellte Menschen könnten ihren Fleischkonsum unverändert beibehalten, während die ärmeren Schichten verzichten müssten. Eine Rationierung wäre eine theoretische Option, praktisch jedoch völlig illusorisch. Bund und Kantone könnten mit grossangelegten Kampagnen Gegensteuer geben, ob sich die Schere dadurch jedoch schliessen würde, ist ebenfalls fraglich.
Egal wie man sich entscheidet, Verlierer gäbe es immer. Das Klima, die Tiere, die Wirtschaft, die Konsumenten. Mit einem kleinen Unterschied: Gerät die Erderwärmung ausser Kontrolle, verlieren alle.