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«Das tut mir leid für die Reisenden»: SBB-Chef zu Zügen ins Ausland

Interview

«Das tut mir leid für die Reisenden»: SBB-Chef zu Zügen ins Ausland

Vincent Ducrot will im Freizeitverkehr zulegen. Im Interview verrät er, wieso er eine weniger starke Preiserhöhung wollte, warum er vor Ausbauten des Netzes warnt – und wann es in den FV-Dosto-Zügen endlich nicht mehr schaukelt.
09.12.2023, 23:0328.03.2024, 17:11
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SBB-Chef Vincent Ducrot wehrt sich gegen den Markteintritt von Flixtrain und Co. (Bern, 4. Dezember 2023).
SBB-Chef Vincent Ducrot wehrt sich gegen den Markteintritt von Flixtrain und Co. (Bern, 4. Dezember 2023).Bild: Andrea Zahler

SBB-Chef Vincent Ducrot musste dieses Jahr viele Fragen zum Unfall im Gotthard-Basistunnel beantworten. Dass die Debatte emotional geführt wurde, erstaunt ihn nicht. «Wir sind eines der letzten Unternehmen, die allen gehören und zu denen jeder eine Meinung hat», sagt er beim Gespräch am SBB-Hauptsitz in Bern.

Wie läuft es den SBB dieses Jahr?
Vincent Ducrot:
Bei den Passagierzahlen sind wir weit über dem Jahr 2019, allerdings mit grossen regionalen Unterschieden. Die S-Bahn Zürich beispielsweise ist noch nicht auf dem Vorkrisenstand. In dieser Region können viele Menschen Homeoffice machen, in anderen weniger. In Genf oder Lausanne, wo neue S-Bahn-Systeme entstanden sind, sind wir über den Werten von 2019. Im Fernverkehr sind wir bei den Pendlern etwa 10 Prozent unter den Werten von 2019, in der Summe aber 6 bis 7 Prozent darüber, weil wir im Freizeitverkehr am Wochenende so stark zugelegt haben.

Mit dem Fahrplanwechsel am Sonntag setzen die SBB auf einen Ausbau im Freizeitverkehr. Am Wochenende gibt es neue Direktverbindungen von Genf und Bern nach Chur oder von Zürich nach Einsiedeln und Brig. Was kommt als Nächstes?
Wir wollen das Angebot im Freizeitverkehr stark ausbauen, vor allem am Wochenende. Unter der Woche brauchen wir den verlässlichen Grundtakt, aber am Wochenende können wir mehr differenzieren. Zudem wollen wir künftig an jedem Grossanlass wie Schwingfesten noch stärker präsent sein. Das Züri Fäscht dieses Jahr war ein gutes Beispiel, dort haben wir ein grosses Angebot rund um die Uhr gefahren. So kommen mehr Leute auf den ÖV.​

BLS-Chef Daniel Schafer sagte der «Schweiz am Wochenende», man müsse auch über eine Aufweichung des Taktfahrplans nachdenken. Teilen Sie seine Meinung?
Unter der Woche braucht es den starren Taktfahrplan. Kundinnen und Kunden brauchen die Systematik. Wenn die fehlt, wird die Bahn wegen der Unsicherheit, wann die Züge fahren, sofort weniger genutzt. Das hat man in vielen Ländern gesehen. Am Wochenende können wir auf Basis des Grundtaktes aber etwas ausbrechen - und künftig je nach Wetter oder Saison flexible Angebote lancieren. Heute ist unser Fahrplan noch sehr starr. Aber dank Ausbauten in der IT werden wir in ein paar Jahren viel flexibler disponieren können.

Wie entwickelt sich der Taktfahrplan weiter?
Er wird im Rahmen der Ausbauschritte der Infrastruktur weiterentwickelt, über die das Parlament alle paar Jahre entscheidet. Diese langfristige Planung ist eine Stärke der Schweiz. Jetzt gerade wird der Fahrplan für den beschlossenen Ausbauschritt 2035 vom Bundesamt für Verkehr (BAV), den Regionen und uns revidiert.

Diese Revision wurde nötig, weil die ursprünglich geplanten Angebote gar nicht gefahren werden können. Erste Entwürfe, die publik wurden, sorgten für massive Kritik. Auf vielen Strecken entfallen Direktzüge, auf anderen werden die Fahrzeiten länger.
Die publik gewordenen Entwürfe waren die Version 0. Jetzt sind wir etwa bei Version 10, und wir werden noch ein weiteres Jahr zusammen mit dem BAV die Fahrpläne anpassen und können auch noch an den Infrastrukturausbauten schrauben. Es kommt gut.

Es ist aber schon seltsam: Trotz milliardenschwerer Investitionen wird die Bahn langsamer und direkte Züge entfallen.
Das Problem ist dasselbe wie auf der Strasse: Wenn man viel mehr Kunden im System hat, muss man die Geschwindigkeiten manchmal etwas senken, um die Kapazität zu erhöhen. Das ist auch nicht so schlimm: Kundinnen und Kunden sind lieber drei Minuten länger unterwegs, dafür pünktlich. Wir haben jetzt gerade in der Westschweiz den Fahrplan ab 2025 überarbeitet, damit dort mehr Stabilität reinkommt. Das haben wir in Zürich bereits bei der Eröffnung der Durchmesserlinie im Jahr 2015 gemacht und vor wenigen Jahren im Tessin. Deshalb ist das System dort jetzt sehr stabil.

Die Züge in der Schweiz werden nicht mehr schneller.
Auf dem bestehenden Netz nicht. Aber die Politik kann natürlich entscheiden, ob sie noch Neubaustrecken will. Derzeit wird über einen 8 Kilometer langen Tunnel zwischen Morges und Perroy diskutiert oder einen 30 Kilometer langen Tunnel zwischen Zürich und Aarau. Die Studie dazu wird 2026 vorliegen. Damit würden ein paar Minuten gewonnen.

Wie könnte auch der internationale Verkehr attraktiver werden?
Wichtig sind internationale Abkommen für den Ausbau. Die Strecke zwischen Zürich und München beispielsweise wurde zwar elektrifiziert, aber der deutsche Streckenabschnitt wurde zu wenig ausgebaut für einen Stundentakt. Zwischen Genf und Lyon gibt es kaum Züge. Dieses Wochenende ist dort die «Fête des Lumières». Zehntausende werden aus der ganzen Schweiz dorthin fahren, aber mangels guter Zugverbindungen mit dem Auto. Wir sind zudem froh, dass Italien nun die Strecke ab Domodossola Richtung Mailand ausbaut.

Frankreich ist ein gutes Beispiel. Früher gab es viel mehr Direktverbindungen dahin. Heute ist fast das gesamte Angebot auf Paris ausgerichtet.
Die Spielregeln sind im internationalen Verkehr andere. Im offenen Wettbewerb fährt jeder dorthin, wo er Geld verdient, wie bei den Airlines. Und Paris ist eine sehr beliebte Destination. Dass es wenige Direktverbindungen in andere französische Städte gibt, liegt aber auch an der tiefen Kapazität des französischen Netzes. Die freien Trassen werden für andere Züge gebraucht, die besser ausgelastet sind. Wir sind im Gespräch mit der französischen Bahn, weil wir das Angebot erhöhen wollen. Beispielsweise könnten auch mit Zügen nach Lyon gute Umsteigeverbindungen bis nach Spanien geschaffen werden. Da prüfen wir alternative Modelle.

Das neue CO₂-Gesetz, das demnächst ins Parlament kommt, sieht Subventionen für den internationalen Bahnverkehr vor. Was planen Sie damit, wenn es durchkommt?
Wir wollen Nachtzüge nach Rom und vielleicht weiter nach Neapel, aber auch nach Barcelona einführen. Der Nachtverkehr hat sich sehr gut entwickelt. Zürich ist mittlerweile nach Wien der grösste Nachtzug-Hub Europas. Wir wollen mit unserem Partner ÖBB zusammen investieren.

Beliebt trotz teils schlechter Qualität: Die Nachtzüge nach Europa.
Beliebt trotz teils schlechter Qualität: Die Nachtzüge nach Europa.Bild: Keystone

Die angebotene Qualität ist teils unterirdisch. Die Wagen sind alt, oft fehlen Schlaf- und Liegewagen.
Die ÖBB und Trenitalia haben neues Rollmaterial bestellt. Bis es geliefert ist, braucht es Geduld. Manchmal schäme ich mich, wenn ich die Berichte unserer Kundinnen und Kunden zum Zustand der Nachtzug-Flotte lese. Dafür entschuldige ich mich. Wir wurden leider vom Erfolg überrannt. Es wird sich bessern.

Ebenfalls ein Trauerspiel sind die Züge am Tag nach Deutschland. Zwischen Zürich und München oder nach Stuttgart sind viele Züge verspätet, die ICE schaffen es oft gar nicht erst über Basel hinaus an ihr eigentliches Ziel in der Schweiz.
Ja, und das tut mir echt leid für die Reisenden. Auch wir als SBB leiden und die Deutsche Bahn (DB) leidet. Ich habe viel Austausch mit DB-Kollegen, manchmal verzweifeln sie selbst ab dem Zustand. Sie geben sich viel Mühe, die Situation zu verbessern. Aber in den Nuller-Jahren wurde viel zu wenig investiert ins deutsche Netz. Es ist in einem sehr schlechten Zustand. Die DB hat jetzt aber einen Sanierungsplan über die nächsten 10 Jahre.

Der Direktor des Bundesamts für Verkehr (BAV), Peter Füglistaler, hat die Idee lanciert, die ICE-Züge künftig planmässig in Basel enden zu lassen.
Die DB ist ein sehr guter Partner. Wir wollen auch in Zukunft an durchgehenden Zügen festhalten und die DB will das auch. In Phasen mit vielen Baustellen wie jetzt muss man vielleicht einmal ein, zwei Jahre ein paar Verbindungen in Basel enden lassen. Aber danach kommen sie wieder zurück.

Eine weitere Möglichkeit wäre, solche Züge gar nicht erst in den Taktfahrplan zu integrieren.
Es gibt keine Trassen ausserhalb des Taktfahrplans – oder nur solche, die völlig uninteressant sind. Unser Netz ist voll und das meistbefahrene Netz der Welt. Das liesse sich nur mit milliardenteuren Ausbauten ändern, für die das Geld fehlt.

Nun fordern sogar Ostschweizer Parlamentarier und Kantonsregierungen, dass die Eurocity Zürich-München via St.Gallen und St. Margrethen nicht mehr im Takt verkehren.
Wir haben das geprüft. Es ist leider sehr schwierig. Wir könnten auch den Zug nicht mehr in St.Gallen halten lassen, aber dann wäre der Aufschrei sehr gross.

Der Eurocity nach München: Beliebt, aber oft zu spät.
Der Eurocity nach München: Beliebt, aber oft zu spät.Bild: Ralph Ribi / CH Media

Die SBB wehren sich vehement gegen eine Liberalisierung des internationalen Personenfernverkehrs. Wären günstige Angebote von Flixtrain, Westbahn und Co. nicht auch eine Chance für den ÖV?
Es gibt Chancen, aber auch grosse Risiken. Unser System ist sehr erfolgreich und hat viele Vorteile. Wir haben ein Taktsystem und ein durchgehendes Tarifsystem. Der Preis für die Liberalisierung wäre, das mittelfristig aufzugeben. Dann müssten sich Kunden am Bahnhof entscheiden, mit welcher Gesellschaft sie reisen wollen und ein entsprechendes Ticket lösen. Das wäre das Ende des direkten Verkehrs, wie wir es heute kennen.

Das BAV sieht das anders. Es sagt, die Tarifintegration würde ausländischen Anbietern vorgeschrieben.
Glauben Sie, Flixtrain will das Schweizer Tarifsystem übernehmen? Das ist nicht ihr Modell. Wir führen Diskussionen mit Flixtrain, wir wissen sehr genau, was sie wollen. Flixtrain könnte heute schon in die Schweiz fahren und Leute zwischen München und Zürich transportieren, einfach nicht für Fahrten innerhalb der Schweiz. Es gibt aber nur sehr ungünstige Trassen: Flixtrain will nicht um 4 Uhr morgens in Zürich abfahren. Wir auch nicht. Unser Tarifsystem ist nicht kompatibel mit der Marktöffnung. Zudem: Der Bundesrat hat sich 2021 dagegen ausgesprochen.

Der Druck der EU, dass sich die Schweiz bewegt, wird immer grösser. Die Thematik wird auch mit dem Rahmenabkommen verknüpft.
Am Schluss wird die Politik entscheiden. Ist denn die Marktöffnung ein Erfolg, wo sie umgesetzt wurde?

Es gibt verschiedene Meinungen. Fakt ist, dass Gesellschaften wie Trenitalia ins Ausland expandiert haben und dort günstige Angebote machen.
Da geht es aber immer um Züge auf Hochgeschwindigkeits-Strecken. Dort lässt sich Geld verdienen. Die haben wir aber in der Schweiz nicht, auch nicht zu Nachbarländern. Wir haben ein Tarifsystem, bei dem eine Fahrt mit einem Zug um 7 Uhr morgens gleich teuer ist wie um 9 Uhr und an Ostern gleich teuer wie im November.

Ein SBB-Vertreter stellte kürzlich einen Direktzug nach London in Aussicht. Was ist da dran?
Wir sind an einer Studie mit SNCF und Eurostar. Sie wird nächstes Jahr abgeschlossen sein. Wenn es möglich ist, werden wir einen Zug aus der Schweiz nach London einführen. Die Destination ist sehr beliebt. Es muss aber in unter sechs Stunden machbar sein, darüber nehmen nur wenige den Zug. Wir diskutieren auch mit Trenitalia, ob wir künftig Direktzüge nach Florenz oder Turin anbieten könnten. Die Nachfrage danach steigt stark.

Das internationale Angebot ist stark auf Zürich fokussiert. Dabei wäre es doch Ihr Auftrag, die ganze Schweiz ans Ausland anzubinden.
Das stimmt. Aber wir müssen dort beginnen, wo der Markt am stärksten ist. Zürich ist von überall her sehr gut angebunden. Wir bauen das internationale Netz nach dem Hub-System auf, und Zürich ist der ideale Hub. Es gibt dort sehr viele Kundinnen und Kunden, der Bahnhof hat noch viel Kapazität und die Potenziale sind gross. Wir werden auch das Angebot ab Basel ausbauen und Genf wird ebenfalls ein Hub in Richtung Frankreich oder Spanien. Aus Bern beispielsweise kann man problemlos in Zürich umsteigen.

Noch immer lassen sich in der SBB-App keine Tickets für internationale Züge buchen. Wann ist es endlich so weit?
Nächstes Jahr. Im Webshop auf sbb.ch gibt es schon jetzt alle relevanten Billette in unsere Nachbarstaatenländer, sowie Billette in die Benelux-Länder, nach Dänemark und Tschechien. Bald folgt die App.

Am Sonntag steigen die ÖV-Preise durchschnittlich um 3.7 Prozent. Stimmt es, dass Sie sich gegen die Erhöhung gewehrt haben?
Wir wollten eine moderatere Erhöhung. Aber letztlich entscheidet der Strategierat der Branchenorganisation Alliance Swisspass, in dem wir eine Stimme haben. Ich verstehe die Argumente der Kollegen, gerade im Regionalverkehr. Der Strom wurde teurer, die Löhne steigen und gleichzeitig kürzt der Bund die Abgeltungen. Das muss jemand ausgleichen. Es ist ein politischer Wille, die Nutzer stärker in die Pflicht zu nehmen.

BAV-Chef Peter Füglistaler kritisiert die ÖV-Branche: Sie habe sich in der Vergangenheit nie damit auseinandersetzen müssen, ob etwas auch günstiger gehen würde. Da sei eine gewisse Anspruchshaltung auf öffentliche Gelder entstanden. Teilen Sie die Kritik?
Ich kommentiere solche Aussagen nicht, das ist nicht meine Art. Das System des Regionalen Personenverkehrs (RPV) ist stark vordefiniert: Gewinne sind nicht erlaubt. Der Bund und die Kantone sagen, welches Angebot sie wollen. Die öffentliche Hand und die Kundschaft bezahlen es.

Trotzdem könnten Sie die Angebote günstiger erbringen.
Wir wollen bis 2030 Kosten im Umfang von 6 Milliarden Franken einsparen. Wir arbeiten permanent daran, effizienter zu werden. Aber es gibt viele Regeln, Auflagen und Wünsche. Dieses Jahr haben wir viel Energie in die Offerten gesteckt und an vielen Orten gespart. Wir haben zudem mit Kantonen diskutiert, worauf man verzichten kann.

Können Sie Beispiele nennen?
Nehmen wir die Zürcher S-Bahn. Die älteren Züge haben Rost angesetzt und müssen saniert werden. Wenn wir die Maximallösung umsetzen, kostet das 200 Millionen Franken. Wir können aber auch eine kleinere Variante für 70 Millionen Franken wählen. Das schlägt sofort auf die Rechnung des Bundes und des Kantons Zürich. Ein weiteres Beispiel ist: Welches Sicherheitsniveau in den Zügen wollen wir? In Zürich haben wir einen Sicherheitsdienst, der Züge nachts begleitet. Das kostet zwar, wird aber von den Kunden auch sehr geschätzt und ist der Sicherheitslage angemessen.

Wenn dort gespart wird, sind das konkrete Abstriche beim Angebot. Das wird viele mit einem unguten Gefühl zurücklassen.
Das werden wir auch nicht tun, weil der Kanton diesen Effort leistet, aber solche Dienstleistungen haben ihren Preis. Den muss jemand bezahlen. Es geht nicht um Abstriche. Es geht darum, das Niveau zu halten, ohne auszubauen. Das System ist jetzt schon sehr gut.

Sie streiten derzeit mit dem Bund um Geld für den Erhalt der Infrastruktur für die Periode 2025 bis 2028. Sie wollen 9.3 Milliarden Franken, 1.6 Milliarden Franken mehr, als der Bund vorsieht. Wie ist der aktuelle Stand?
Wir diskutieren und werden wie immer eine Lösung finden. Das Gesetz ist klar: Erhalt kommt vor Ausbau. Eine Sorge von mir ist: Alle neuen Bauwerke lösen sehr hohe Folgekosten für den Erhalt aus. Das müssen wir berücksichtigen. Wir haben dem Bund oft signalisiert, dass wir nicht mehr bauen können.

Es zeichnet sich ab, dass viele Projekte des Ausbauschritts 2035 erst gegen 2040 fertig werden – etwa das vierte Gleis in Zürich-Stadelhofen oder Ausbauten rund um Bern.
Das Projekt Bahn 2000 wurde 2005 eingeführt. In der Schweiz sind wir immer etwa fünf Jahre zu optimistisch. Die Studien- und Bauphasen beherrschen wir gut. Dazwischen gibt es eine Phase, in der Einsprachen möglich sind und in welcher der rechtliche Teil stattfindet. Sie dauert heute viel länger – egal, ob sie Bahnen bauen, Strassen oder Gebäude.

Müssten Beschwerdemöglichkeiten reduziert werden?
Sagen wir es so: Es gibt sehr viele rechtliche Möglichkeiten. Ich bin sehr gespannt, wie es mit dem Solarexpress für beschleunigte alpine Solaranlagen funktionieren wird. Vielleicht ist das wegweisend, vielleicht nicht. Wir haben uns mit der Situation nun abgefunden und werden künftig weniger Enddaten kommunizieren.

Oft wollen Anwohner keine neuen Infrastrukturen. Das merken die SBB etwa gerade im Kanton Zürich, wo es neue Serviceanlagen für die S-Bahn braucht. Hat dieser Widerstand zugenommen?
Ja. Die Leute wollen einen Bahnhof und einen dichten Takt vor dem Haus, aber keine Abstell- oder Serviceanlagen. Vor diesem Problem stehen auch andere Bahnen wie die BLS. Gleichzeitig ist Platz zusehends knapp. Das ist sehr herausfordernd.

Büros und Wohnungen statt Gleise: Die SBB-Überbauung Europaallee in Zürich.
Büros und Wohnungen statt Gleise: Die SBB-Überbauung Europaallee in Zürich.Bild: Keystone

Die SBB besitzen viel Land in Städten, das sie mit Büros oder Wohnungen überbaut haben. Das ist doch ihr eigener Fehler.
Nein. Wir besitzen in Städten zwar viel Land, aber dort bringen Serviceanlagen nichts. Sie müssen dort sein, wo Züge in der Nacht abgestellt werden. Am Morgen fahren die ersten Züge nicht von der Stadt in die Agglomeration, sondern bringen Pendler aus der Agglomeration in die Stadt. Am Abend ist es umgekehrt. Früher war die Bahn anders konzipiert. Da machten die technischen Anlagen in der Stadt Sinn, heute brauchen wir sie an den Linienenden. Diesen Trend zum dezentralen Bauen gibt es auch bei Verkehrsbetrieben in den Städten.

SBB-Cef Vincent Ducrot
Bild: Andrea Zahler / CH Media
Bähnler seit Jahrzehnten
Vincent Ducrot steht seit 2019 an der Spitze der SBB. Der 61-jährige Elektroingenieur arbeitete zwischen 1993 und 2011 in verschiedenen Funktionen bereits bei den SBB, bevor er Generaldirektor der Freiburgischen Verkehrsbetriebe (TPF) wurde. Nach dem Tod seiner Frau im Jahr 2017 war er alleinerziehender Vater von sechs Kindern. Letztes Jahr heiratete Ducrot erneut. Seine jetzige Frau brachte ein weiteres Kind in die Ehe ein. Er wohnt in der Nähe von Freiburg. (ehs)

Finden Sie noch genügend Leute, um Infrastruktur-Projekte umzusetzen und Ihre Infrastruktur zu unterhalten?
Der Fachkräftemangel ist unsere grösste Herausforderung. Wir haben über 1000 offene Stellen, vor allem im technischen Bereich und bei Stellen mit unregelmässigen Arbeitszeiten. Viele Jüngere wollen das nicht. Wir haben auch einen immer höheren Teilzeit-Anteil. Wir müssen jedes Jahr 1000 Leute pensionsbedingt ersetzen. Gleichzeitig ist der Markt ausgetrocknet. Das gilt selbst für Ingenieurinnen und Ingenieure. Relativ lange realisierten fast nur wir in der Schweiz Grossprojekte. Das hat sich geändert. Jetzt kämpft ganz Europa um diese Leute. In einigen Berufen wird uns die Digitalisierung helfen, effizienter zu werden. Diese Chancen müssen wir stärker nutzen.

Die grossen Bahnhöfe werten die SBB auf – etwa den sanierten Südtrakt des Zürcher Hauptbahnhofs mit Fine-Dining-Restaurant und teuren Gastro-Konzepten. Dabei sind Bahnhöfe traditionell Orte, an denen sich alle Gesellschaftsschichten treffen und Platz haben. Wollen Sie das ändern?
Nein, überhaupt nicht. Bahnhöfe müssen für alle Menschen und für jedes Budget etwas bieten. Wir haben aber in den letzten Jahren etwas zu viel in Fast-Food-Angebote investiert. Jetzt wollen wir einen besseren Mix und gehen einen Schritt zurück. In Zürich haben wir einen historischen Bahnhofsflügel bewusst etwas mehr aufgewertet. Insgesamt wollen die Leute mehr Frische und weniger Fast Food. Darauf müssen wir reagieren. Wir beobachten sehr genau und sehen, was funktioniert. Ein Bahnhof läuft, wenn er alle anzieht. Dazu gehört schnelle Verpflegung, aber auch gepflegtes Essen im bedienten Bahnhofsbuffet mit guter Qualität.

Und wann kann man auch in den FV-Dosto-Zügen etwas essen und trinken, ohne dass einem wegen der starken Schwankungen schlecht wird?
Die Züge sind mittlerweile sehr zuverlässig unterwegs. Wir haben viele Verbesserungen erzielt. Nun prüfen wir, die Systeme für die Wankkompensation (Wako), auf die wir verzichten, aus den Drehgestellen zu entfernen. Hersteller Alstom hat die Studienphase für den Umbau abgeschlossen und einen Vorschlag gemacht. Jetzt entwickeln und bauen wir einen Prototypen. Der muss getestet und dann zugelassen werden. Wenn das klappt und die simulierten Verbesserungen in der Praxis eintreten, werden wir alle Züge im Rahmen der ordentlichen Revision anpassen. Dann wird der Fahrkomfort weiter verbessert. Wenn alles gut läuft, sind in vier Jahren alle Züge umgebaut. (aargauerzeitung.ch)

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29 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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wintergrün
10.12.2023 00:29registriert Dezember 2017
Gutes Interview.
Ich bin froh dass die Sbb an so vielen Themen dran ist.
Und sparen ist auch nur bedingt sinnvoll - Man sieht ja an der deutschen Bahn dass Jahrzehnte lange unter Investitionen langfristig Folgen hat.
Wichtig ist dass die letzte Meile klappt und man gute Anschlüsse bis zum Wohnort hat.
Das hat seinen Preis.
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Frechsteiner
10.12.2023 00:13registriert März 2019
Tolles und ehrliches Interview. Durcot scheint die Bedürfnisse und Sorgen der Passagiere zu kennen und schaut nicht nur auf die Zahlen wie Meyer.

Besonders die neuen Züge nach Florenz, Rom, vielleicht sogar Lyon und London machen Hoffnung, dass internationales Reisen bald einfacher wird.

Zum Ticketing muss man aber schon sagen, dass seit einiger Zeit keine Tickets nach Madrid oder Stockholm mehr buchbar sind, auch am Schalter nicht.

Da bucht einem zum Glück SimpleTrain.ch das Ticket an jeden Bahnhof in Europa.
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Donnerherz
10.12.2023 00:26registriert November 2020
Super sachliches Interview. Gute Arbeit, danke!
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