Alain Berset hatte wenig Erbauliches zu vermelden. «Im Moment scheint es illusorisch, dass wir auf den 20. April hin viel ändern können», sagte der «Oberkommandierende» im Kampf gegen das Coronavirus der «SonntagsZeitung». Damit erteilte er Forderungen aus SVP und Wirtschaft eine Absage, nach Ablauf der vom Bundesrat gesetzten Frist zur Normalität überzugehen.
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Seit drei Wochen befindet sich die Schweiz nun in der «ausserordentlichen Lage», in der das öffentliche Leben und weite Teile der Wirtschaft weitgehend stillstehen. Während viele von uns im Homeoffice arbeiten und Post oder Detailhandel eher zu viel als zu wenig Arbeit haben, zeichnet sich immer mehr ab, dass der Lockdown auch zahlreiche Verlierer hervorbringen wird.
Sämtliche Schulen in der Schweiz sind geschlossen, gelernt wird zu Hause. Dabei könnten Kinder aus bildungsfernem Milieu – häufig mit Migrationshintergrund – unter die Räder kommen. «Sorgen bereiten uns Kinder, die in schwierigen Familienverhältnissen leben», sagte die Zürcher Regierungsrätin Silvia Steiner, oberste Erziehungsdirektorin des Landes, dem «Tages-Anzeiger».
Eine der «NZZ am Sonntag» vorliegende Studie besagt, dass fast jeder fünfte Schüler neun oder weniger Stunden pro Woche für die Schule arbeitet. «Die Schere zwischen leistungsstarken und schwachen Schülern wird sich weiter öffnen», fürchtet Andrea Lanfranchi, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. Eine andauernde Schliessung wird diesen Effekt verstärken.
Rund 70'000 Lernende müssten bis im Sommer ihre Abschlussprüfung machen. Bund, Kantone und Wirtschaft einigten sich im März darauf, dass sie stattfinden sollen. Das grösste Problem dürfte der praktische Teil werden, weil viele Lehrbetriebe schliessen mussten. Ein allgemein gültiges Konzept ist nicht in Sicht. Silvia Steiner fürchtet «einen Flickenteppich von Lösungen».
Ähnlich problematisch dürfte die Lehrstellensuche werden. Wegen des Lockdowns sind viele Schnupperlehren gestrichen worden. Teilweise werden die Schulabgänger mit Durchhalteparolen vertröstet. Als mögliche Lösung wird erwogen, die Vergabe der Lehrstellen auf den Herbst zu verschieben. Unter der Ungewissheit leiden auch in diesem Fall schwächere Schüler.
Die Corona-Krise führt zu einer Explosion der Kurzarbeitsgesuche: Bis Freitagabend wurde für 1,3 Millionen Angestellte Kurzarbeit angemeldet. Das entspricht einem Viertel der Beschäftigten in der Schweiz. Sie erhalten in einem solchen Fall noch 80 Prozent ihres Lohnes. Teilweise gleicht der Arbeitgeber die Differenz aus. Viele Arbeitsämter sind mit der Flut der Gesuche überfordert.
Die Kurzarbeit soll eigentlich Entlassungen verhindern, doch auch die Zahl der Arbeitslosen steigt stark an. Seit Mitte März mussten sich 26'000 Personen arbeitslos melden. Von amerikanischen Verhältnissen ist die Schweiz weit entfernt. Aber auch in diesem Fall gilt: Je länger die Wirtschaft stillsteht, umso mehr wird sich das Problem verschärfen, trotz Kurzarbeit.
Eine Kategorie fällt bislang durch alle Maschen: Selbständig Erwerbende, die nicht vom bundesrätlichen «Arbeitsverbot» betroffen sind, mangels Kundschaft aber auch nichts mehr verdienen. Dazu gehören Taxifahrer, Physiotherapeuten oder freischaffende Fotografen. Bundesrat Guy Parmelin will diese Woche eine Lösung für sie präsentieren. Sonst droht das Sozialamt.
Beizer, Coiffeusen, Lädelibesitzer: Sie alle mussten am 16. März schlagartig zumachen. Für ihre Angestellten gibt es Kurzarbeit. Sie selber profitieren auch davon, wenn auch in bescheidenem Ausmass. Ein echtes Problem für sie sind Vermieter, die trotz leerer Kassen auf der Bezahlung des vollen Mietzinses beharren. Es sind Zustände, die an das England von Charles Dickens erinnern.
Linderung verschafft der vom Bund verbürgte Notkredit zu null Prozent Zins. Doch viele können schon in guten Zeiten kaum Reserven bilden. Sie wissen nicht, wie sie den Kredit je zurückzahlen sollen. Es droht eine Pleitewelle. Der ETH-Ökonom Jan-Egbert Sturm fordert deshalb im CH-Media-Interview vom Bund die Zahlung von Beiträgen à fonds perdu. Also faktisch Subventionen.
Die Corona-Krise betrifft nicht nur den Dienstleistungssektor. Ein Beispiel sind die Industrie-KMU, die vom «Frankenschock» 2015 hart getroffen wurden und teilweise von der Substanz leben mussten. In letzter Zeit gab es eine gewisse Entspannung. Nun aber trifft sie der Corona-Hammer mit voller Wucht, mit beschädigten Lieferketten und einer absehbaren weltweiten Rezession.
Der Dachverband Swissmechanic warnt vor Liquiditätsengpässen und beklagte die schlechte Zahlungsmoral insbesondere von Grosskunden. Viele KMU haben bereits Leute auf die Strasse gestellt. Probleme haben auch Start-ups, die mangels nennenswerten Umsatzes die Anforderung für Bundeskredite nicht erfüllen. Für sie werden Lösungen gesucht.
Besonders hart trifft die Krise die Bereiche Kultur, Sport und Entertainment. Alle Live-Events mit Zuschauern sind verboten, was nicht nur die Veranstalter, sondern unzählige Beschäftigte an den Rand des Ruins bringt. Und die Aussichten sind nicht positiv. Die unerfreulichsten Szenarien gehen davon aus, dass es dieses Jahr gar keine Events mit Publikum mehr geben wird.
Die hoch subventionierten Einrichtungen (Museen, Opernhäuser, Theater) werden es überstehen. Der Bund hat Hilfsgelder für Kultur und Sport in Aussicht gestellt, aber viele Häuser, Vereine oder Festivals könnten von der Bildfläche verschwinden. Freischaffende Künstler sind in ihrer Existenz bedroht, und manche ambitionierte Sportlerin könnte ihren Traum von Olympia begraben.
Die Liste liesse sich verlängern. Zu erwähnen sind etwa die Kitas oder die ohnehin schlecht bezahlten Reinigungskräfte, denen es nun dreckig geht. Letztlich hängt alles von den Fallzahlen ab. «Das Virus gibt das Tempo vor», sagt Gesundheitsminister Berset. Vor dem Coronavirus sind wir alle gleich, weshalb es kaum eine Branche gibt, die nicht in irgendeiner Form betroffen ist.
Eines aber zeichnet sich ab: Die wirtschaftlichen Folgen werden nicht die Grossverdiener oder die Hochqualifizierten besonders hart treffen, sondern die sozial Schwachen. Das Online-Magazin «The Wire» bezeichnet Corona als «Ungleichheits-Virus». Für die USA trifft dies besonders zu, aber auch wir werden nicht verschont werden, wenn es nicht bald zu einer Entspannung kommt.
Der deutsche Sozialwissenschaftler Stefan Sell spricht von einer «Hierarchie der Not». Diese sieht gemäss der «Zeit» etwa so aus: «Am oberen Ende richten sich die Denkarbeiter im Homeoffice ein und hadern mit der Qualität der Videokonferenzen. Und am unteren Ende wissen viele nicht, wie sie ihre Miete bezahlen sollen.»
In unserem Betrieb arbeiten wir, unter Berücksichtigung der neuen Regeln, normal weiter. Interessanterweise sind so wenig Mitarbeiter (total ca. 380) wie noch nie krank...