Waffenexporte: Das Parlament schiesst mit Platzpatronen
Ende Jahr tritt Thomas Süssli als Armeechef ab. Die Standartenübergabe an Nachfolger Benedikt «Bänz» Roos fand bereits letzte Woche in Luzern statt. Am Dienstag zog Süssli vor den Medien eine durchzogene Bilanz seiner sechsjährigen Amtszeit. Der IT-Spezialist war 2019 mit dem erklärten Ziel ernannt worden, die Schweiz für den Cyber-Krieg fit zu machen.
Dann aber kehrte der reale Krieg nach Europa zurück, mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Dies sei ein Weckruf gewesen, sagte Süssli: «Doch dann ist die Schweiz wieder eingeschlafen.» Es sei ihm nicht gelungen, die Notwendigkeit einer stärkeren Verteidigung ausreichend zu erklären, meinte der Armeechef selbstkritisch.
Sein Image als Quereinsteiger mit einem relativ «leichten» militärischen Rucksack war nicht hilfreich. Dennoch wäre es falsch, das Problem an Thomas Süssli festzumachen, denn er hat es zumindest versucht. Trotzdem wurde die Bedrohung etwa durch Drohnen ignoriert, obwohl sie auch bei uns immer öfter über wichtigen Einrichtungen gesichtet werden.
«Unverzügliches Handeln»
Nach diversen Vorfällen in europäischen Ländern aber ist die Politik «aufgewacht». Der Ständerat hat am Mittwoch mit klarem Mehr eine Motion angenommen, die vom Bundesrat «unverzügliches Handeln» gegen Drohnenangriffe fordert. Bei Verteidigungsminister Martin Pfister rannte er offene Türen ein. Der Nationalrat dürfte nächste Woche nachziehen.
Weitaus schwerer tat sich das Parlament mit einem anderen Geschäft: Seit Beginn des Ukraine-Kriegs vor bald vier Jahren rang es um eine Lockerung des kurz zuvor verschärften Kriegsmaterialgesetzes. Anlass war die Weigerung des Bundes, mehreren europäischen Ländern die Weitergabe von Rüstungsgütern an das angegriffene Land zu ermöglichen.
Rüstungsindustrie ohne Kunden
Das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco argumentierte mit dem Neutralitätsrecht, das eine Gleichbehandlung aller an einem Krieg beteiligten Länder verlangt. Damit aber verursachte es einen beträchtlichen Kollateralschaden, denn nicht nur die betroffenen Länder waren verärgert, dass sie längst gekauftes und bezahltes Kriegsmaterial nicht liefern durften.
Den Preis im wahrsten Sinn zahlte die Schweizer Rüstungsindustrie. Sie profitiert kaum von der globalen Aufrüstung. Im Gegenteil: Länder wie Deutschland weigern sich wegen der restriktiven Regeln, in der Schweiz Tarnnetze zu kaufen, von gröberem «Geschütz» ganz zu schweigen. Wie schwierig das Geschäft geworden ist, zeigte sich am Montag in Brüssel.
«No Chinese, no Swiss»
Dort versuchten die Hersteller, mit dem ersten «Swiss Defence Industry Day» Lobbying in eigener Sache zu betreiben, in Anwesenheit von Bundesrat Pfister. Mit überschaubarem Erfolg. «Manche Staaten sagen uns klipp und klar: ‹No Chinese, no Swiss.› Da werden wir mittlerweile auf eine Stufe gestellt», sagte der Verkaufsdirektor von GDELS-Mowag der NZZ.
Die Folgen zeigten sich im Parlament bei der Revision des Kriegsmaterialgesetzes. Aus einer «Lex Ukraine» wurde eine «Lex Rüstungsindustrie», wie selbst die Befürworter einräumten. Denn ausgerechnet Waffenexporte in die Ukraine, ob direkt oder indirekt, die eigentlich ermöglicht werden sollten, wurden auf Druck der SVP gekippt.
Humanitäre Tradition gefährdet
Am Donnerstag schwenkte der Ständerat auf die restriktivere Variante ein, die der Nationalrat am Dienstag beschlossen hatte. So dürfen weiterhin keine Staaten beliefert werden, die Menschenrechte schwerwiegend und systematisch verletzen und in denen ein hohes Risiko besteht, dass Rüstungsgüter gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden.
Der Bundesrat erhält zudem ein Vetorecht, mit dem er die Weitergabe an unerwünschte Endempfänger stoppen könnte. Der «Tagesanzeiger» allerdings warnt, dass der Bundesrat sich bei Waffenexporten gerne hinter dem Parlament verstecke. Ihm blind zu vertrauen, sei daher «schlicht naiv» und setze «die humanitäre Tradition der Schweiz aufs Spiel».
Konflikt «unter der Kriegsschwelle»
Ungelöst bleibt zudem das Grundproblem, die Einschränkungen durch das Neutralitätsrecht. Die Sicherheitspolitische Kommission (SiK) versuchte es deshalb mit einer gelinde gesagt kreativen Formulierung. Sie will Exporte «im Fall eines bewaffneten Konflikts unter der Kriegsschwelle» ermöglichen. Das erzeugt höchst unangenehme Assoziationen.
So bezeichnet Russland seine Attacken auf die Ukraine als «militärische Spezialoperation», selbst jene gegen die Zivilbevölkerung. Im Prinzip könnte dies ein Vorwand sein, um die Ukraine trotzdem zu beliefern, doch das ist wie erwähnt unerwünscht. Der zuständige Bundesrat Guy Parmelin (SVP) meinte, dies könne «in 5, 10 oder 15 Jahren» möglich sein.
Ukraine steht im Regen
Bei den Unterstützern der Ukraine im Parlament hält sich das Verständnis in Grenzen. «Ausgerechnet die Ukraine, die unsere Hilfe wirklich nötig hätte, lassen wir irgendwo im Regen stehen», meinte die Aargauer Mitte-Ständerätin Marianne Binder. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die Gesetzesrevision das angestrebte Ziel verfehlt.
«Solange die Möglichkeit besteht, dass die Schweiz eingreifen und beeinflussen kann, wie europäische Staaten ihr erworbenes Kriegsmaterial weiterverwenden, wird das Vertrauen kaum zurückkehren», mahnte die NZZ in einem Kommentar. Mit anderen Worten: Die Schweizer Rüstungsindustrie könnte trotz der Lockerung kaum neue Kunden gewinnen.
Referendum ist notwendig
Zwar verfügt sie im Gegensatz zur europäischen Konkurrenz über freie Kapazitäten, doch einige Firmen haben ihre Produktion teilweise in andere Länder verlagert, andere denken laut darüber nach. Die restriktive Anwendung der Neutralität bleibt ein Stolperstein, und das Parlament hat nach jahrelangem Hin und Her womöglich mit Platzpatronen geschossen.
Das von linksgrüner Seite angekündigte Referendum ist trotzdem notwendig, auch wenn sich die Industrie darüber ärgert. Je nach Timing könnte die Abstimmung sogar gleichzeitig mit der von Christoph Blocher angeregten Neutralitätsinitiative stattfinden. Es wäre eine echte Chance für eine fundamentale Debatte über dieses für unser Land so diffizile Thema.
Ob sie genutzt wird, ist eine andere Frage. Die Schweiz müsste dafür aus ihrem sicherheitspolitischen Tiefschlaf erwachen. Andere Länder sind in dieser Hinsicht erheblich weiter. Armeechef Thomas Süssli illustrierte dies an seiner Medienkonferenz mit einem Zitat seines Amtskollegen im «Frontstaat» Estland: «Ihr seht den Rauch, wir sehen das Feuer.»
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