Die genaue Ursache von Long Covid liegt auch nach über drei Jahren intensiver Forschung noch im Dunkeln. Das erschwert nicht nur die Diagnose, sondern verunmöglicht auch eine wirksame Therapie – und lässt Betroffene deprimiert und verzweifelt zurück. Nun aber hat ein Team von Medizinern um den Immunologen Onur Boyman erstmals umfassend den zugrunde liegenden Mechanismus dieser schwer fassbaren Krankheit aufgedeckt. «Es ist wie ein Nebel, der sich plötzlich lichtet», sagt Boyman, Professor an der Uni Zürich und Direktor der Klinik für Immunologie am Unispital Zürich.
Bislang habe man immer nur Teilaspekte der Krankheit identifiziert, zum Beispiel erhöhte Entzündungswerte, Blutgerinnsel, überschiessende Antikörper, Autoimmunreaktionen oder, wie eine soeben erschienene Studie in «Nature Immunology» berichtet, dysregulierte T-Zellen, die Teil des erworbenen Immunsystems sind. «Nun haben wir aber ein zentrales Puzzleteil entdeckt, das all diese Faktoren verbindet», so Boyman. Demnach liegt die Ursache in einer fehlgeleiteten Reaktion des sogenannten Komplementsystems, das zum angeborenen Immunsystem gehört. Das berichten die Forschenden in der aktuellen Ausgabe des renommierten Wissenschaftsmagazins «Science».
Eigentlich sei es verrückt, sagt der Immunologe Boyman. In der Fachwelt wisse man seit Jahrzehnten um die enorme Wichtigkeit des Komplementsystems. Aber:
Das Komplementsystem besteht aus mehr als 30 Proteinen, die aktiviert werden und von der Leber ins Blut gelangen, wenn ein Virus in den Körper dringt oder wenn das Gewebe verletzt wird. Normalerweise unterliegt das System einem fein abgestimmten Kontrollmechanismus, der eine kontinuierliche oder überschiessende Aktivierung verhindert. Nur: Wie die Zürcher Studie zeigt, weisen Long-Covid-Patienten sowohl während der akuten Erkrankung als auch mindestens sechs Monate danach eine gestörte Aktivierung des Systems auf – erst wenn es sich beruhigt, klingt Long Covid ab.
Herausgefunden haben das die Forschenden in einem Projekt, an dem sie mehr als drei Jahre gearbeitet haben. Für die Studie haben sie 113 Covid-19-Patientinnen und -Patienten bis zu einem Jahr nach der akuten Infektion begleitet; 40 von ihnen litten an Long Covid. Parallel dazu wurden 39 gesunde Personen als Kontrollgruppe untersucht. Den Studienteilnehmenden wurde Blut entnommen, das auf mehr als 6500 Proteine untersucht wurde, also auf fast alle Proteine, die im Blutkreislauf des Menschen schwimmen.
Daraufhin wurde geschaut, welche Proteine sich zwischen den Long-Covid-Betroffenen und den vollständig Genesenen am stärksten unterschieden. Und das waren ganz klar die Komplementproteine. Zirkulieren diese im Blut, schadet das dem Körper nicht. Allerdings können sie in aktiviertem Zustand in alle Körperzellen und Organe eindringen: in rote Blutzellen, in die Epithelzellen, in Nervenzellen, in Blutplättchen – und zerstören diese.
Zum einen erklärt das, wieso keine Long-Covid-Therapie nachhaltig und allen Patienten hilft. Ein Beispiel sind Blutverdünnungsmedikamente: Zwar gibt es vielversprechende Fallberichte, in denen Blutverdünner wie Aspirin die mit Long Covid zusammenhängenden Blutgerinnsel auflösen und das Leiden lindern. Andere Studien hingegen zeigten keinen Erfolg oder zumindest keinen anhaltenden. Das wundert Boyman nicht:
Wenn daneben ein System arbeite, das immer wieder Blutgerinnsel produziere, packe man das Übel mit Blutverdünnern nicht an der Wurzel an.
Zum anderen erklärt die Rolle der Komplementproteine auch, wieso Long Covid eine systemische Krankheit ist, also den ganzen Körper betrifft und physische, psychische und kognitive Auffälligkeiten zeigt. Chronische Müdigkeit, Atemnot, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme und depressive Verstimmung sind nur ein paar Beispiele der mehr als 200 bekannten Symptome von Long Covid.
Gemäss der «Science»-Studie wäre es also am besten, mit einer Therapie direkt ins Komplementsystem einzugreifen. Es gibt sogar schon Medikamente, die das tun. Dazu gehören Behandlungen, die für sehr seltene Immunerkrankungen der Nieren, Muskeln oder des Nervensystems entwickelt worden sind. Die Studie könnte nun Schub verleihen, solche Medikamente in klinischen Studien für Long-Covid-Patienten zu untersuchen, hofft Boyman.
Auch für die Diagnostik könnten sich die neuen Erkenntnisse als wertvoll erweisen. Denn: «Die Messung des aktivierten Komplementsystems könnte uns dabei helfen, eine klinische Long-Covid-Diagnose zu festigen», sagt der Zürcher Immunologe. Es ist nicht so, dass es bis jetzt gar keine Biomarker gegeben hätte. Zum Beispiel ist bekannt, dass das Cortisol- und Serotonin-Level von Long-Covid-Patienten stark reduziert ist. Aber: «In unserer Studie haben wir gesehen, dass die fehlregulierten Komplementproteine den grössten Unterschied aufweisen», so Boyman.
Er räumt ein, dass die Entwicklung von Tests für Proteine um einiges aufwendiger ist als für Antikörper, wie sie etwa in Corona-Schnelltests zum Einsatz kommen, oder für Hormone. «Aber wenn Diagnostikfirmen nun Ressourcen hineinstecken, ist es machbar.» Lukrativ wären sowohl Tests als auch Therapien allemal: Schätzungsweise fünf bis zehn Prozent aller Covid-Infizierten entwickeln eine Form von Long Covid.
«Für die Betroffenen ist die momentane Situation schlimm. Das sind Leute, die vor Long Covid voll im Leben standen», sagt Boyman.
Die Uni ZH geniesst ein weiteres Mal meine hohe Anerkennung. Wieder einmal eine top Leistung, weiter so!
Hoffen wir nun sehr, dass es für Menschen, die an Long-Covid leiden, bald sowohl eine sichere Diagnose als auch eine wirksame Therapie geben wird.
Nach dem, was ich über die Funktionsweise des Komplementsystems gelesen habe, scheint mir jedoch klar, dass ein Organ von zentraler Bedeutung ist: Die Leber.
Die Leber, die selten schmerzt und von der wir erwarten, dass sie so viele Stoffe verarbeitet und "verdaut".
Vielleicht sollten wir uns von nun an gegenseitig "Glück, Gesundheit und eine gut funktionierende Leber" wünschen.