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Genderstern: Wissenschaftliche Studien sprechen fürs Gendern

Genderstern
Der Genderstern erhitzt so manches Gemüt.Bild: imago

Studie zeigt, wie wirksam der Genderstern ist – und wie skeptisch die Leute dennoch sind

Mit ihrer Genderstern-Initiative wollte Susanne Brunner der «Kunstsprache mit politischer Botschaft» ein Ende setzen. Sprache könne zur Gleichberechtigung nicht beitragen, argumentiert sie. Doch evidenzbasiert ist das nicht – im Gegenteil.
29.11.2024, 12:1029.11.2024, 14:21
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«Sprache kann zur Gleichstellung nichts beitragen», sagte Susanne Brunner im Herbst 2022 in einem Interview mit der NZZ. Sie hatte soeben ihre Initiative «Tschüss Genderstern!» lanciert, die es dem Zürcher Stadtrat verbieten sollte, inklusiv zu kommunizieren.

Ihr Hauptargument lautete, die Stadt dürfe Sprache nicht als politisches Instrument für einen Geschlechterkampf missbrauchen. Der Genderstern sei grammatikalisch falsch, unverständlich, unnötig. Viel besser sei das generische Maskulinum, bei dem die männliche Form stellvertretend für alle Geschlechter stehe:

«Das generische Maskulinum ist eine saubere, bewährte Lösung. Es schliesst niemanden aus: Frauen, Männer, Transpersonen, alle sind eingeschlossen. Es ist klar, es ist einfach, es ist die inklusivste Form überhaupt.»
Susanne Brunner gegenüber der NZZ

Sie wolle sich mit der Initiative gegen die «Kunstsprache» der «Sprachpolizei» wehren, sagt sie. Non-binären Menschen empfahl sie in diversen Medieninterviews Grammatiknachhilfe.

In der Zwischenzeit ist klar: Die Zürcher Bevölkerung stört sich offenbar nicht genug am oft als sperrig bezeichneten Sonderzeichen und stimmte am vergangenen Abstimmungssonntag für die inklusive Sprachregelung. Dass das sinnvoll ist, belegen diverse wissenschaftliche Studien aus der Psychologie und Linguistik.

Forschung attestiert dem Genderstern nützliche Wirkung

Jüngst konnte nämlich ein interdisziplinäres Forschungsteam von verschiedenen europäischen Universitäten (erneut) belegen, dass Menschen nicht an Frauen denken, wenn sie das generische Maskulinum lesen.

Zur Studie
Die Studie «Effects of the Generic Masculine and Its Alternatives in Germanophone Countries: A Multi-Lab Replication and Extension of Stahlberg, Sczesny, and Braun (2001)» wurde im Oktober 2024 im «International Review of Social Psychology» publiziert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden replizierten an ihren jeweiligen Universitäten ein Experiment aus dem Jahr 2001. Aus der Schweiz nahmen die Psychologinnen Fiorina Giuliani der Universität Zürich sowie Sabine Sczesny der Universität Bern teil.

Die Forschenden baten mehr als 2600 Personen, bis zu drei berühmte Personen aus den Bereichen Musik, Sport, Politik, Fernsehen, Literatur und Schauspiel zu nennen. Dabei teilten sie die Teilnehmenden in fünf Gruppen ein und fragten nach:

  • Personen in der Politik (Kontrollbedingung)
  • Politikern (generisches Maskulinum)
  • PolitikerInnen (Binnen-I)
  • Politikerinnen und Politikern (Femininum-Maskulinum)
  • Politiker*innen (Genderstern)

Dann verglichen sie die Anzahl Nennungen von Frauen respektive Männern. Es kam heraus, dass die Kontrollgruppe mit neutralen Bezeichnungen und die Gruppe mit dem generischen Maskulinum am meisten Männer nannten. Wurden sie hingegen mit gendergerechten Formulierungen gefragt, nannten sie deutlich öfter weibliche Personen. Mehr noch: Beim generischen Maskulinum denken Menschen sogar noch weniger an Frauen, als wenn gar kein Geschlecht genannt wird.

Die Studienautorinnen und -autoren konkludieren denn auch mit einem klaren Appell: Offizielle Empfehlungen zur Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache sollten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen.

Weitere Studien sprechen klar für inklusive Sprache

Mit ihren Ergebnissen ist die Studie bei weitem nicht allein. Auch der Schweizer Psycholinguist Pascal Gygax fand in seiner Forschung heraus, dass wir beim Lesen eines männlichen Begriffs eher an Männer denken.

Aktuelle Studien zur Messung der elektrischen Aktivität im Gehirn belegen: Um sich in einer Gruppe Ärzte eine Frau vorzustellen, muss das Gehirn mehr Energie aufwenden, als wenn es «Ärzte» lediglich als eine Gruppe von Männern interpretiert.

Das hat laut Gygax weitreichende Konsequenzen. Nicht nur wird durch den männlich geprägten Sprachgebrauch ein ganzer Teil der Gesellschaft unsichtbar gemacht. Die Sprache habe auch einen grossen Einfluss darauf, wie Kinder sich ihre zukünftigen Berufswahlmöglichkeiten vorstellen.

Im November 2024 erhielt der Psycholinguist für seine Forschung den Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist, der häufig als «Schweizer Nobelpreis» angesehen wird.

Seit zwanzig Jahren untersucht Pascal Gygax die Zusammenhänge zwischen Sprache und Repräsentationen von Geschlecht.Video: YouTube/Marcel-Benoist

Ginge es nach der Wissenschaft, haben die Zürcherinnen und Zürcher also richtig entschieden. Doch schweizweit hat inklusive Sprache noch immer einen schweren Stand, wie eine repräsentative Tamedia-Umfrage zeigt.

Demnach möchten über 25 Prozent der Befragten am liebsten mit der männlichen Form angesprochen werden, mehr als die Hälfte bevorzugt die Anrede mit beiden Geschlechtern und lediglich ein Fünftel will den Genderstern.

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464 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Medical Device
29.11.2024 12:39registriert Januar 2021
ich weiss nicht, ich werd ais dieser Gender Diskussion nicht so schlau. Die einen wollen es per Gesetz durchdrücken andere per Gesetz verbieten. Soll doch jeder so formulieren wie er/sie (es) will. Persönlich werd ich sicher nicht gendern. Wenn jemand das will, so what?
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Hierundjetzt
29.11.2024 12:36registriert Mai 2015
Einspruch:
Der Methodensteckbrief ist nur für Monolingualländer. Nicht anwendbar für Multilingualländer wie Schweiz oder Luxemburg

Es geht doch nicht um Inklusion einiger weniger in der Verwaltungskommunikation

Wir haben 30% Einwohner die Deutsch als Zweitsprache haben.

Kehren wir doch mal alles um und nehmen wir die Perspektive eines Stadtzürchers in Genf ein.

Anbei ein korrekt gegenderter französischer Satz

Beaucoup d’adolescent.e.s ne sont pas conscient.e.s du temps qu’ils.elles passent sur leurs écrans.

Wir hatten alle 4 Jahre Französisch. Kein D-CH'ler wird das je können

Eben.
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WieDemGeht?
29.11.2024 12:31registriert August 2021
Man könnte auch einfach die geschlechtsspezifischen Formen abschaffen und nur die generische Form nutzen, genau wie auf Englisch. Problem gelöst und Sprache vereinfacht, statt verkompliziert.
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