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Sechseläuten: Warum der verschonte Böögg 2024 doch eine Premiere ist

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Ein Sechseläuten-Umzug vor dem Zweiten Weltkrieg, aufgenommen zwischen 1933 und 1936.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Die Mär von der gescheiterten Böögg-Verbrennung von 1923 und wie sie entstanden ist

Der Böögg 2024 lebt! Wegen zu starker Windböen konnte er am Zürcher Sechseläuten gestern nicht verbrannt werden. Eine Premiere, denn die Story, dass die Böögg-Verbrennung 1923 buchstäblich ins Wasser fiel, stimmt nicht.
16.04.2024, 14:3416.04.2024, 16:32
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Was für eine Enttäuschung für die zu Tausenden aufmarschierten Zünfter, Schaulustigen und Hobby-Brätlerinnen und -Brätler: Da der Wind am Montagabend auf dem Zürcher Sechseläutenplatz zu heftig bläst, kann der Böögg nicht verbrannt werden. Hauptsorge der Organisatoren sind die Funken, welche durch die Windböen ins Publikum hätten fliegen und eine Massenpanik auslösen können.

Während sich das Publikum enttäuscht auf den Nachhauseweg macht, beginnt bei den Statistikern das grosse Rätselraten. Ist es nun das erste Mal in der Geschichte des Sechseläutens, dass der Scheiterhaufen unterhalb des Bööggs nicht angezündet werden konnte? «Das ist noch nie passiert», erklärt Felix H. Boller, der oberste Zürcher Zünfter, unmittelbar nach der Absage. Also tatsächlich eine Premiere.

Doch keine Stunde nach der grossen Sechseläuten-Enttäuschung geistert plötzlich das Jahr 1923 durch die Medien. Der «Tages-Anzeiger», die NZZ, «Blick» und auch watson schreiben, dass es in jenem Jahr so stark geregnet habe, dass der Böögg nicht verbrannt werden konnte.

Des Bööggen Tod 1923

Um herauszufinden, wie denn das Sommerwetter nach der ersten Böögg-Verschonung war, versuchen wir, mehr über das verregnete Sechseläuten von 1923 zu erfahren, und werden im NZZ-Archiv fündig. Die grosse Überraschung: Der Böögg wurde vor 101 Jahren gar nicht verschont!

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Zwischen 1933 und 1936: Der Böögg wird zum Sechseläutenplatz gekarrt.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Zwar stimmt es, dass der Sechseläuten-Montag damals ziemlich verregnet war, doch der Kopf des Bööggs explodierte nach einer Stunde doch noch. Am 17. April 1923 ist in der NZZ die dramatische Nacherzählung der Ereignisse zu lesen:

«Diesmal heisst es, von hinten anfangen in der Berichterstattung, denn der niederträchtige und zäh am Leben hängende Böögg will es so. In diesem Augenblick schlägt es 7 Uhr und erst in dieser Minute war der zum Feuertode verurteilte Winter endlich so freundlich, mit einem letzten ‹Chlapf› Abschied von dieser regendurchfeuchteten Welt zu nehmen, der er in seiner Todesstunde (diesmal dauerte sie wirklich volle 60 Minuten!) noch einen üblen Streich spielte.

Er wollte und wollte nicht brennen, rief zu seiner Hilfe alle bösen Wassergeister herbei, badete sich und das zuschauende Volk in einem ausgiebigen Regenguss, blieb standhaft auf seinem hohen Vostament, lachte sich schief, als die Zunftreiter, die Musikanten, Bannerträger und das Volk mit und ohne schützende Schirme auseinanderstoben und die hohe Polizei tropfnass für Ordnung unter den Restgruppen sorgte, und erst als einige Teile seiner Eingeweide explodierten, der Besen sank und der Kopf sich mit kräftigem Schuss in Rauch und Feuerwerk auflöste, gab er in stiller Wut das Regiment auf und zog seine letzten Reste in die züngelnde Glut zu seinen Füssen zurück ... Nichts ist mehr von ihm übrig, da der Chronist gänzlich durchwässert zum Tintenfass eilt, um von des Bööggen Tod wie alle Jahre getreulich zu berichten.»

Doch damit nicht genug: In weiteren Abschnitten schildert der «Chronist» – nein, es ist kein Vorfahr unseres Eismeisters Klaus Zaugg – im Stile eines heutigen Livetickers, wie der Böögg sich gegen sein Ableben wehrte und er dann doch seinen Tod fand:

«Punkt 6 Uhr, als das Läuten aller Kirchenglocken begann, flammte der Holzstoss auf, doch rasch verschwand das Feuer im wirbelnden Qualm, den Todeskandidaten dicht verhüllend. [...] Es war eine ärgerliche Angelegenheit: Qualm und Rauch verdarben das Meiste und das Murren der Menge nahm von Viertelstunde zu Viertelstunde zu, da die Bööggerei, jeder Spannung bar, sich abwickelte. Warum brannte der Bursche nicht? Warum chlöpfte es nicht? Warum diese Zähigkeit, Standhaftigkeit, Hartnäckigkeit und Feuerfestigkeit? Warum nichts Interessantes?

Endlich 6 Uhr 28: erste Explosion ...; 6 Uhr 31: zweite; der Kopf brennt sachte; 6 Uhr 33: die linke Seite auch, aber das drohende Wetter kommt immer näher, der Qualm wird wieder dicker und das Feuer links verlöscht wieder; 6 Uhr 40: es regnet; 6 Uhr 41: es giesst; 6 Uhr 42: die Massenflucht ein unter unvermindertem Qualm, Wasser unten und oben, Pfützen, Schlamm, belästigende Regenschirme, schreiende Kinder, Verwirrung erzeugende Wagen, Suchen, Stossen, Schimpfen, Regen, Regen, Regen ...

Da 6 Uhr 51: neue Explosion, 6 Uhr 53: der Kopf fliegt davon, 6 Uhr 54: der Besen sinkt, 6 Uhr 56: Beine, Bauch und Arme versinken. 6 Uhr 58: die letzten Frösche und Raketen verpuffen, das Gestelle lodert auf ... 7 Uhr: Finale – Scheiden – Tod.
Postkarte von viel Qualm beim Böögg. Die Ansichtskarte wurde 1924 versendet, das Bild könnte von 1923 stammen.
Postkarte von viel Qualm beim Böögg. Die Ansichtskarte wurde 1924 versendet, das Bild könnte von 1923 stammen.bild: archiv Eth bibliothek

Der Böögg explodierte vor 101 Jahren also doch. Woher stammt aber die Falschmeldung vom geplatzten Entzünden, die es gestern in fast alle Online-Portale schaffte? Eine abschliessende Antwort auf diese Frage gibt es leider nicht. Der älteste Eintrag in der Schweizer Mediendatenbank SMD, der vom nicht verbrannten Böögg 1923 handelt, stammt aus dem Jahr 2007.

Jürg C. Scherz, der damalige Chef der Zürcher Zünfte, sagte in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger»: «1923 brannte der Böögg überhaupt nicht, es hat zu stark geregnet, und er ist schliesslich in den See gekippt.» Dass es 1923 stark geregnet hat, haben wir bereits gehört, in den See gekippt ist der Böögg aber erst 1944, als er wegen der Anbauschlacht während des Zweiten Weltkriegs im Hafen Enge aufgestellt wurde.

Nach gut zwanzig Minuten senkte sich der Böögg damals plötzlich und stürzte kopfüber in den Zürichsee. Die Zünfter versuchten zu retten, was zu retten war, rissen dem Böögg den Kopf ab und warfen diesen wieder ins Feuer. Ein paar Knaller explodierten dann am Ende doch noch.

Since the Sechselaeuten field was transformed into a potato field because of the Anbauschlacht (battle for cultivation) the Boeoegg is burnt on the jetty at the adjacent lake shore in Enge, pictured d ...
Der ins Wasser gestürzte Böögg im Hafen Enge im Jahr 1944.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Oberzünfter Scherz scheint also etwas verwechselt zu haben. Danach dauert es sieben Jahre, bis die Mär vom nicht verbrannten Böögg erneut in der Presse auftaucht. Vor dem Sechseläuten 2014 listet der «Tages-Anzeiger» die «unzähligen Anekdoten» auf, die sich um das Zürcher Frühlingsfest ranken. Nummer 5 ist die Anekdote von der ins Wasser gefallenen Böögg-Verbrennung aus dem Jahr 1923, die leider nicht stimmt, sich in der Folge aber trotzdem verselbstständigte.

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9 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Kahneman
16.04.2024 15:21registriert Februar 2018
Grossartige Recherche und wunderbar unterlegt mit der Original-Berichterstattung von damals!
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Thompf
16.04.2024 17:54registriert August 2021
Im Umkehrschluss bedeutet es aber auch, dass letztes Jahr mit 57 Minuten eben doch kein Langzeitrekord aufgestellt wurde, wenn 1923 der Kopf erst nach über einer Stunde explodiert sein soll. Wir werden jahrein jahraus mit Halbwahrheiten gefüttert. ;-)
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