Wo wir stehen, hätte früher die Gletscherzunge des Tsanfleuron an unseren Schuhen geleckt. Jetzt, 170 Jahre später, stehen wir südlich des Skigebietes Les Diablerets im Trockenen. Und nicht nur das: Hier blüht eine gelbe Blume mit fleischigen Blätter wie dicke Finger. Dem Bach-Steinbrech scheint es an diesem viel zu warmen Herbsttag auf 2300 Metern zu gefallen.
Humus gibt es hier keinen. Der Steinbrech, die Weide, die als Busch über den Boden kriecht und auch die einsame, vierzig Zentimeter hohe Lärche ziehen die nötigen Nährstoffe von irgendwo zwischen dem Schotter der Moräne und aus der Luft. Andernorts schaffen es das Fleischers Weidenröschen oder der Alpensäuerling in der Ödnis Wurzeln zu schlagen.
Sie gehören zu den Pionierpflanzen der Gletschervorfelder. Es seien auf den ersten Blick «bedrückende Orte», sagt Glaziologe Matthias Huss von der ETH Zürich und der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, WSL. Grau und grauenhaft sei der Anblick, und wegen dem tauenden Eis und der sich erwärmenden Felsen rumpele es von überall.
Zwei Kilometer sind es von hier bis zum heutigen Beginn des Gletschers. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts ziehen sich die Gletscher in der Schweiz so weit zurück, dass bis zu 800 Quadratkilometer Land frei werden, wenn der CO2-Ausstoss nicht reduziert wird. Um 550 Quadratkilometer geht die Eisfläche im Best-Case-Szenario zurück, wenn es gelingt, die Erderwärmung auf 1.5 Grad zu beschränken. Im mittleren Szenario mit einer Erwärmung um rund 3 Grad wird die Fläche in der Grösse des Kantons Solothurns frei (-775 km2).
Oder umgekehrt: 2100 gibt es im schlimmsten Fall nur noch 31 Quadratkilometer, im besten 252 Quadratkilometer Gletscherfläche gemäss den Berechnungen von Matthias Huss. Vor 170 Jahren, zum Zeitpunkt, als die letzte kleine Eiszeit zu Ende ging, war die Schweiz noch mit beeindruckenden 1788 Quadratkilometern Eis bedeckt - der Grösse des Kantons Zürich.
Weltweit wird bis 2100 die Landfläche in der Grösse von Nepal oder Finnland frei – und das ohne Berücksichtigung der riesigen Eisschilde in der Antarktis und Grönland, wo die Veränderungen schwerer zu berechnen sind. Dies haben Huss und der französische Forscher Jean-Baptiste Bosson berechnet, die Studie ist kürzlich im Fachmagazin «Nature» erschienen.
Es wird weltweit immer noch Gletscher geben, aber speziell in Europa werden sie selbst im optimistischsten Szenario um mehr als die Hälfte schrumpfen. Während dieses Ökosystem mit kälteliebenden Lebewesen wie einer Steinfliege, die in den Gletscherspalten der Anden lebt, einem speziellen Ringelwurm, der im Tibet auf dem Eis lebt, oder der Gletscherbachzuckmücke in Österreich verschwindet, siedelt sich an dieser Stelle eben ein Steinbrech an.
Nach zehn Jahren beginnen Lärchen zu wachsen, nach dreissig Jahren sind sie bereits zehn Meter hoch. Nach 50 Jahren können Bäume da stehen, wo einst ein Gletscher war.
Hier im Gletschervorfeld des Glacier de Tsanfleuron steht nur diese eine mickrige Lärche, obwohl das Gebiet schon 170 Jahre eisfrei ist. Das hat mit dem nährstoffarmen Kalkboden zu tun, auf dem wir stehen. Biologe Christian Rixen von der WSL gibt auch zu bedenken: «Bis auf einem Gletschervorfeld Kühe weiden können, braucht es viel Zeit. Alpine Weiden haben sich über hunderte bis tausende von Jahren entwickelt.» Auch wenn der Boden mit Pionierpflanzen überwachsen sei, heisse das noch lange nicht, dass man ihn bewirtschaften könne.
Hier oben braucht alles länger. Der Silberwurz, den Rixen auf einem Berggipfel fand, hatte 140-jährige Wurzeln. Manche mehrjährigen alpinen Gräser seien sogar bis zu unglaublichen 6000 Jahre alt - älter als jede knorrige Arve in der Schweiz.
Gerade wegen solcher seltenen Spezialisten eines kühlen Lebensraums fordern die Autoren der Nature-Studie, dass man über den Schutz des frei werdenden Landes nachdenken solle. Hierhin werden sich Pflanzen und Lebewesen zurückziehen, denen es weiter unten zu warm wird. Aber hier könnten auch neue Speicherseen und Staudämme für fossil-freie Stromproduktion entstehen.
Heute stehen weltweit 30 Prozent der Gletschergebiete unter Schutz, zusätzliche 17 Prozent werden durch den Antarktisvertrag geschützt. In der Schweiz sind bislang die Gletschergebiete im Glarnerland um den Tödi und der Aletschgletscher im Wallis als Unesco-Weltnaturerbe geschützt. «Die übrigen Gebiete, die frei werden, sind wie ein rechtsfreier Raum», sagt Huss.
Wir haben das Gletschervorfeld durchschritten und stehen vor dem Tsanfleuron. Sein Schmelzwasser fliesst in tausend Rinnsalen auf den Fels. Matthias Huss und zwei Glaziologie-Kollegen der Uni Freiburg haben Geographie-Studierende hierhergebracht, um ihnen zu zeigen, wie der Gletscher die Landschaft verändert. Wie er Moränen zur Seite anhäuft, wie er Felsplatten poliert, Geröll zu Kieseln schleift und Seen anlegt.
Es ist nicht gut, wenn Gletscher im Sommer immer weniger Wasser abgeben, dann, wenn man es in Zukunft dringend brauchen wird. Auch erwärmen sich schnee- und eisfreie Landmassen wegen der dunkleren Farbe stärker. Aber einen positiven Aspekt gibt es: Sobald irgendwo etwas wächst, wo es vorher kahl war, wird zusätzlicher Kohlenstoff aus der Atmosphäre gespeichert. In den wachsenden Gletschervorfeldern wird also CO2 gespeichert, selbst wenn da noch keine grossen Bäume stehen.
Das haben auch Bosson und Huss in ihrer Studie bedacht: Sie schätzen, dass während dieses Jahrhunderts auf dem weltweit frei werdenden Land 45 bis 85 Megatonnen CO2 gespeichert werden. Das entspricht einer Biomasse von 2200 bis 10'600 Quadratkilometern Regenwald. Also von der Grösse des Kantons St.Gallen aufwärts. Das kann die Klimaerwärmung nicht spürbar bremsen, wenn gleichzeitig jährlich Regenwald in der Grösse der Schweiz abgeholzt wird. Doch jeder Boden, der Feuchtigkeit speichern oder auch Starkregen zurückhalten kann, wird künftig wichtig sein.
Wir steigen auf, bis wir die Bergstation des Skigebietes sehen. Ein Stück Gletscher ragt um mehrere Meter hinaus: Es wurde über den Sommer mit weissen Tüchern abgedeckt, damit der Gletscher nicht noch weiter abschmilzt und die Skifahrer nach der Querung des Gletscherplateaus den Skilift erreichen. Gegen 50 Meter Eisdicke sind hier in 15 Jahren verloren gegangen. Rund drei Meter verlor der Tsanfleuron-Gletscher hier allein diesen Sommer, zuunterst sogar fünf Meter.
Matthias Huss sagt: «Die Veränderungen sind gewaltig. In letzten beiden Sommern wurden sogar die Gletscher auf über 4000 Meter schneefrei.» Will heissen: Der Gletscher wird von oben nicht mehr genügend genährt. Wenn der Schnee im Winter den Verlust im Sommer nicht auszugleichen vermag, wird der Gletscher zur Leiche. Wie der Tsanfleuron. «Er ist tot. Ein Zombie», sagt Horst Machguth, Glaziologe an der Uni Fribourg zu den Studenten.
Er, Huss und Professor Martin Hoelzle führen schon lange junge Leute auf Gletscher. Hoelzle hat morgens auf dem Parkplatz, bevor die Exkursion zum Gletscher überhaupt startete, gesagt: «Ich bin komplett desillusioniert. Unsere Arbeit hat trotz grosser Aufklärung der Gesellschaft keinen Einfluss auf die politischen Handlungen bezüglich Klimaerwärmung.»
Huss sieht das anders. Er sagt, das Interesse an ihrer Arbeit habe in den letzten fünf Jahren stark zugenommen. Inzwischen fragt sogar Al-Jazeera wegen Interviews an. «Die Gletscher haben die Kraft den Klimawandel eindrücklich sichtbar zu machen. Immerhin hat die Bevölkerung der Gletscherinitiative zugestimmt.»
Die Studierenden auf dieser Exkursion jedenfalls sind vom Gletscher beeindruckt, viele betreten zum ersten Mal einen. Während der Mittagspause sagt eine Studentin zur Kollegin: «Vielleicht werden wir das noch erleben, dass hier alles weg ist.»
Derweil spazieren Touristen auf einem abgesteckten Weg über den Gletscher, das Skigebiet vermarktet sich noch mit dem Eis, solange es geht, und nennt sich «Glacier 3000».