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reden von der vierten industriellen Revolution. Die Psychologin Sherry Turkle
hat untersucht, welche Wirkung die neuen Gadgets auf uns haben.
24.01.2016, 09:5924.01.2016, 10:10

Folgen
Vor rund zwei Jahren wurde die Psychologin Sherry
Turkle von einer renommierten Privatschule im Bundesstaat New York um Hilfe
gebeten. Die Lehrerinnen und Lehrer hatten eine signifikante Verhaltensänderung
ihrer Schüler festgestellt: «Die Kinder sind nicht grausam», erklärte die
Rektorin, aber sie seien emotional unterentwickelt:
«Zwölfjährige verhalten sich auf dem Spielplatz wie Achtjährige. Sie können sich nicht mehr in die Lage von anderen versetzen. Sie können nicht mehr zuhören und wissen nicht mehr, wie man sich gegenseitig in die Augen schaut.»
Rektorin
Turkle arbeitet seit Jahrzehnten am
Massachusetts Institute of Technologoy (MIT) in Cambridge USA und ist Expertin
auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Sie wollte mehr über das veränderte
Verhalten der Teenager erfahren. Was hat die permanente Verfügbarkeit von
Smartphones und die konstante Verbundenheit mit sozialen Medien wie Facebook
für Auswirkungen? Diesen Fragen ist Turkle nachgegangen. Die Resultate hat sie
kürzlich im Buch Reclaiming Conversation veröffentlicht.
Die beschriebenen Kinder gehören zur ersten
Generation, die von Kindsbeinen an mit Smartphones und Tablets aufgewachsen ist.
Auch ihre Eltern benutzen diese Gadgets, heute sieht man gar Mütter, welche
ihre Babys stillen und gleichzeitig texten. Ob am Familientisch, in der
Schulklasse oder in der Freizeit, das Smartphone ist allgegenwärtig und ein
Leben ohne diese Geräte undenkbar geworden.
«Heutzutage kontrolliert der durchschnittliche Amerikaner sein Smartphone alle sechseinhalb Minuten.»
Sherry Turkle
Und weiter schreibt Turkle: «Wir fangen früh damit an. Es gibt heute bereits Kinderwagen mit
Haltervorrichten für Smartphones. Ein Viertel der amerikanischen Teenager
greifen fünf Minuten nach dem Erwachen zu ihrem Handy. Die meisten Teenager versenden
täglich rund 100 Texte. 80 Prozent können ohne Smartphone nicht mehr
einschlafen. 44 Prozent stellen das Gerät nie ab, auch während des
Gottesdienstes nicht oder wenn sie Sport betreiben.»
Auch am Arbeitsplatz sind wir permanent
online. Turkle beschreibt das Beispiel einer Anwaltskanzlei in Boston. Dort
haben die jungen Anwälte ihren Arbeitsplatz in ein Cockpit verwandelt. Sie sind
umgeben von Laptop, Tablet und mehreren Smartphones. Ein älterer Partner
schildert das Ganze wie folgt:
«Sie haben auch Kopfhörer an, richtig grosse, wie Piloten.»
In diesem Büro geht es sehr ruhig zu und her, Gespräche finden
kaum statt und gelacht wird ebenfalls selten.
Nicht nur in der Schule oder am Arbeitsplatz
ist das Smartphone omnipräsent. Es liegt auch auf dem Tisch, wenn die Familie
zusammen ist, wenn man mit Kolleginnen und Kollegen im Ausgang ist. Es soll
Paare geben, die es selbst ins Bett mitnehmen.
Warum tun wir uns das an? Smartphones machen
süchtig. Sie geben uns das Gefühl, stets mit allem verbunden zu sein und alles
im Griff zu haben und schmeicheln so unseren Allmachtsphantasien. Sie verändern
allmählich auch unser Gehirn. «Leute, die chronisch multitasken, trainieren ihr
Gehirn, sich nach Multitasking zu sehnen», stellt Turkle fest.
«Wer viel Multitasking betreibt, kann es zwar nicht besser, er will nur immer mehr davon.»
Sherry Turkle
Wie jede Sucht fordert auch die
Multitasking-Sucht ihre Opfer. Wer permanent am Smartphone textet, der verliert
die Fähigkeit, eine normale Konversation zu führen. Viele Jugendliche vermeiden
es sogar, ihr Smartphone für den eigentlichen Zweck dieses Gerätes zu
verwenden, das Telefonieren. Sie texten stattdessen. Telefonieren ist ihnen zu
intim geworden.
«Studenten haben keine Probleme, miteinander
ins Bett zu steigen, aber sie sprechen nicht miteinander» schreibt Turkle. «Sie
wissen über die sexuellen Vorlieben ihrer Partner Bescheid, aber sie haben
keine Ahnung, ob er einen verwitweten Vater oder eine autistische Schwester hat.
Vielleicht wissen sie nicht einmal, ob er überhaupt Geschwister hat.»
Was macht texten so viel attraktiver als
miteinander zu sprechen? Beim Texten hat man alles unter Kontrolle. «Wenn ich
online bin, dann will ich als witzige und intelligente Person wahrgenommen
werden, welche die richtige ironische Distanz zu sich selbst hat», erklärt eine
Studentin.
«Auf Twitter und Facebook zeige ich mich von meiner besten Seite und bin unverwundbar.»
Studentin
In den sozialen Medien gibt niemand seine
Schwächen preis. Facebook kennt keinen Daumen, der nach unten zeigt. Gerade
Teenager lernen so falsche Lebenslektionen: Negative Emotionen sind etwas für
erfolglose Kids, und du darfst eine Unterhaltung jederzeit unterbrechen, wenn
du die Kontrolle verlierst.
Auch, oder gerade Liebe und Partnerschaft sind
vom Kontrollwahn betroffen. Partner lernt man nicht mehr im Klassenlager oder
der Disco kennen, sondern online. Und dort müssen strenge Codes gelernt und
eingehalten werden. Wie viel Zeit muss man verstreichen lassen, um einen Flirt
zu beantworten? Wo muss man Ausrufezeichen oder Sonderzeichen setzen? Um sich
ja nicht lächerlich zu machen, lassen sich Teenager mittlerweile von Kollegen
beraten und schicken ihre Antwort erst ab, wenn sie sorgfältig geprüft worden
ist.
Das Liebesleben wird auf diese Weise zum
Marketing in eigener Sache. Wer jung ist, passabel aussieht und einen
anständigen Job hat, der hat dank Facebook, Tinder & Co. auch keine Mühe,
einen Partner zu finden. Die scheinbar unlimitierte Auswahl wird jedoch zum
Problem. Wer weiss, dass er jederzeit seinen Partner wechseln kann, der ist
auch nie sicher, ob er den richtigen gefunden hat.
«Die unendliche Auswahl macht uns unglücklich, weil wir keine definitive Wahl mehr treffen können.»
Sherry Turkle
Die scheinbare Effizienz der
Online-Kommunikation schlägt im Geschäftsleben in ihr Gegenteil um. Wem als
Jugendlicher das Telefonieren schon zu intim ist, der will auch im Büro nicht
direkt mit Menschen zu tun haben. Turkle fasst das Resultat wie folgt zusammen:
«Viele Studien zeigen, dass ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht zu mehr
Produktivität führt und den Stress vermindert. Call-Zentren sind produktiver,
wenn die Angestellten gemeinsame Pausen haben; Softwareteams machen weniger
Fehler, wenn sie mehr zusammen sprechen.»
Im öffentlichen Leben schliesslich führt die
virtuelle Kommunikation in eine Blase von Gleichgesinnten. Ein Jugendlicher
schildert dies wie folgt: «Wir schauen uns nur noch die Filme an, die uns von
unseren Kollegen empfohlen werden. Wir sind immer mit Freunden zusammen und
erkunden niemals auf eigene Faust neue Ideen. Das gilt nicht nur für Filme,
sondern auch für Bücher, das Surfen im Netz und selbst für das Denken.»
Diskussionen mit Andersdenkenden werden so
vermieden, genauso wie Konfrontationen mit politischen Gegnern. Auf Facebook
werden nur Dinge veröffentlicht, von denen man weiss, dass sie ein «Like» von
den Gleichgesinnten erhalten. So entsteht allmählich eine öde Monokultur in den
Köpfen der Betroffenen.
Die Abhängigkeit von Smartphones und anderen
Gadgets führt zu einem Paradox:
«Wir behandeln Maschinen, als ob sie beinahe Menschen wären, und Menschen, als ob sie beinahe Maschinen werden.»
Sherry Turkle
Das ist verständlich und verführerisch zugleich. Roboter sind
verlässlich. Sie lügen und betrügen nicht und lassen einen nicht im Stich. «Es
kann nichts Schlimmes passieren, wenn man einen Roboter als Freund hat», sagen
die Betroffenen.
Doch Roboter sind keine Menschen, sie haben
keine Gefühle. Sie gaukeln eine scheinbare Sicherheit vor. Menschen hingegen
sind zwiespältig und oft mühsam. Sich mit richtigen Menschen zu unterhalten,
kann langweilig sein. Aber letztlich können nur Menschen andere Menschen
verstehen.
Turkle fordert keinen Verzicht auf Smartphones,
Laptops und die sozialen Medien. Sie sind eine grosse Chance für uns Menschen,
aber nur dann, wenn wir dabei die Kunst der menschlichen Konversation nicht
verlernen.
In dieses Dilemma hat uns der technische Fortschritt geführt. Aus
diesem Dilemma kann uns aber der technische Fortschritt nicht führen. «Sollten
wir vergessen haben, einander zuzuhören, dann wird es vielleicht eine App
geben, die uns hilft, wieder aufmerksamer zu werden», schreibt Turkle. «Aber zu glauben, dass die Technik unsere Empathie-Lücke wird schliessen können, ist unfreiwillige Ironie, denn sie hat uns ja das Problem eingebrockt.»
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)
Passend dazu: 21 Comics, die zeigen, wie das Smartphone unser Leben verändert hat
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