Nun haben beide Teams Blut geleckt. Nach dem Finaleinzug wäre sowohl für Italien als auch für England alles andere als der Titel eine Enttäuschung. Der italienische Trainer Roberto Mancini sagte bereits nach dem Viertelfinal-Sieg gegen Belgien: «Wir sind mit dem Minimum nicht zufrieden, wir wollen den Titel.» Auf der Insel werden schon seit Wochen immer wieder dieselben Worte bemüht: «It's coming home». Der erste EM-Titel der Geschichte der «Three Lions» soll her.
Doch beide Kontrahenten sind sich natürlich auch darüber im Klaren, wie gut das andere Team ist. England-Coach Gareth Southgate weiss: «Italien ist seit Jahren in einer hervorragenden Form.» Der 50-Jährige muss sich mit seinem Kader aber auf keinen Fall verstecken. Beide Titelkandidaten befinden sich auf dem allerhöchsten Niveau des internationalen Fussballs und der Ausgang des Finalspiels ist komplett offen. So erwarten auch die Buchmacher ein ausgeglichenes Spiel ohne einen klaren Favoriten.
Insgesamt gesehen geben sich Italien und England also nicht viel. Wer auf den einzelnen Positionen besser besetzt ist, verrät dir watson in der folgenden Analyse. Dabei werden die Stärken und Schwächen der jeweiligen Spieler miteinander verglichen, um so herauszufinden, wo die Teams Vorteile gegenüber dem Gegnern haben.
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— UEFA EURO 2020 (@EURO2020) July 8, 2021
Natürlich ist es im Fussball schwer, Spieler zu vergleichen, da alle einen individuellen Spielstil haben und ihre Positionen nicht immer gleich interpretieren. Dazu kommt, dass sich die Akteure, welche dieselben Positionen bekleiden, auf dem Spielfeld nur selten begegnen. Deshalb soll diese Spielerei auch nicht als Vorhersage des Endresultats dienen. Vielmehr soll es ein Vorgeschmack auf das grosse Finale sein und zeigen, welche Spieler den Ausschlag geben könnten.
Im Tor wird es im Finale ein ungleiches Duell geben. Hier das Wunderkind, das mit 16 Jahren bei AC Mailand debütierte und dessen Karriereweg seither nur eine Richtung kennt: steil nach oben. Dort ein Goalie, der es wohl nie zu einem internationalen Topklub schaffen wird und immer wieder für einen Fehler gut ist.
Doch wie schon bei der WM 2018 ist Jordan Pickford im Nationaltrikot ein anderer Torhüter als bei Everton, was wohl auch an seinen Vordermännern liegt, die ihm das Leben so einfach wie möglich machen. Der 27-Jährige spielt ein starkes Turnier und musste sich erst von einem stark geschossenen Freistoss geschlagen geben, den er erst sehr spät sieht.
Dennoch gewinnt Gianluigi Donnarumma dieses Duell. Er hat sich ebenfalls noch nichts zuschulden kommen lassen und strahlte die gewohnte Ruhe und Souveränität aus. Wenn es ihn brauchte, war er da – so auch im Penaltyschiessen gegen Spanien, als er den Elfmeter von Alvaro Morata parierte und Italien so in den Final verhalf. Der 22-Jährige steht vor einem Wechsel zu PSG und ist bereits jetzt einer der besten Goalies der Welt. Zudem ist er mit seinen 1,96 Metern Körpergrösse in einem allfälligen Penaltyschiessen gegenüber dem elf Zentimeter kleineren Engländer im Vorteil.
Gleich geht es weiter mit den EM-Finalisten, aber vorab eine kurze Werbeunterbrechung:
Und nun zurück zu unseren Finalisten ...
Bei den beiden Linksverteidigern ist es nun eine klare Entscheidung. Bis zum Halbfinal konnten die Italiener stets auf den sehr starken Leonardo Spinazzola bauen, der ein grandioses Turnier spielte. Im Spiel gegen Belgien verletzte er sich aber und musste durch Emerson ersetzt werden. Der Spieler vom FC Chelsea wurde in der abgelaufenen Premier-League-Saison nur zweimal eingesetzt und machte im Halbfinal gegen Spanien keinen guten Eindruck.
Auf der anderen Seite ist mit Luke Shaw ein Spieler, der die Europameisterschaft bisher nutzt, um seine Kritiker zum Schweigen zu bringen. Er ist überall präsent, läuft viel und konnte bereits drei Tore vorbereiten. Der 25-Jährige zeigte sich schon in der Premier League verbessert, nachdem er eine längere Schwächephase durchlaufen hatte. Im Vergleich mit seinem englischen Liga-Konkurrenten hat der Manchester-United-Akteur mehr Spielpraxis und konnte bisher das deutlich bessere Turnier spielen. Ausgleich für England.
In der Innenverteidigung geben sich Italien und England nicht viel. Alle vier gesetzten Spieler befinden sich auf einem sehr hohen Niveau. Giorgio Chiellini ist auch mit 36 Jahren nahezu unüberwindbar. Kein Spieler schaffte es an dieser EM, den Routinier auszudribbeln und auch im Passspiel erlaubt er sich kaum Fehler. Die Juventus-Legende wurde im Spiel gegen die Schweiz verletzt ausgewechselt, konnte sich aber rechtzeitig für den Viertelfinal gegen Belgien wieder zurückmelden und liess sich nichts anmerken.
John Stones gehörte bei Manchester City zur besten Verteidigung der Premier League. Der 27-Jährige setzte seine starke Form an der EM fort, konnte in der Verteidigung aber nicht dieselbe Dominanz ausstrahlen wie beim Klub. Im gegnerischen Strafraum sorgt er mit seiner Kopfballstärke bei Standardsituationen regelmässig für Torgefahr und kann auch mit seinen genauen Pässen ins offensive Spielgeschehen eingreifen. Der Engländer kann im Final eine hervorragende Saison krönen, zieht in diesem Duell aber knapp den Kürzeren. Die Erfahrung und defensive Sicherheit von Giorgio Chiellini gibt am Ende den Ausschlag. Punkt für Italien.
Bonucci spielt nicht nur in der italienischen Nationalmannschaft an der Seite von Giorgio Chiellini, sondern ist auch bei Juve dessen Partner. Der 34-Jährige ist noch immer ein sehr guter Verteidiger, ist im direkten Duell mit den Angreifern aber nicht mehr so stark wie zu seinen besten Zeiten. Im Zweikampf konnte er am laufenden Turnier noch keinem Gegenspieler den Ball abnehmen.
Sein englisches Gegenüber konnte aufgrund einer Sprunggelenksverletzung erst im dritten Gruppenspiel mittun, seither spielte Harry Maguire aber jede Minute. Der 28-Jährige strahlt Sicherheit aus und lässt kaum Chancen zu. Mit seinem starken Passspiel bringt er eine zusätzliche Komponente. Vor allem die Genauigkeit bei Pässen über mehr als 30 Meter, die zu über 80 Prozent ankommen, ist beeindruckend. In dieser Hinsicht ist er dem ebenfalls passstarken Bonucci überlegen, weshalb er den «Three Lions» diesen Punkt sichern kann.
Auf der Position des Rechtsverteidigers haben beide Finalisten sehr schnelle Spieler, die mit Spitzengeschwindigkeiten von jeweils über 32,5 km/h zu den schnellsten Spielern dieser EM gehören. Di Lorenzo ist in der Defensive aktiver, läuft mehr, geht in mehr Zweikämpfe und erobert mehr Bälle als Walker. Dafür hat der Engländer im Passspiel einen Vorteil und sichert sich auch mehr freie Bälle.
In der Offensive sind sich die beiden fast ebenbürtig. Di Lorenzo ist an mehr Angriffen beteiligt, dafür spielt Walker mehr Vorwärtspässe in die Gefahrenzone und kann stärker für Gefahr sorgen. Die beiden nehmen sich nicht viel, doch da Walker offensiv noch einen kleinen Tick besser ist und deutlich mehr Erfahrung auf diesem Niveau vorweisen kann, gewinnt er dieses Duell.
Das Duell zwischen Jorginho und Kalvin Phillips ist eine klare Sache. Obwohl der Engländer eine gute EM spielt, die mit der Vorlage für Sterlings Siegtor gegen Kroatien begann, kann er dem Mittelfeldspieler vom FC Chelsea nicht das Wasser reichen. Jorginho hat zwar noch keinen Assist auf dem Konto, dennoch dirigiert er die italienische Offensive mit seinen zielgenauen Pässen und leitet damit Angriff um Angriff ein.
So war er bereits in 32 Angriffe involviert, die in einem Abschluss mündeten, während es beim Profi von Leeds United nur deren zehn waren. Auch defensiv gehört Jorginho zu den besten Spielern der EM. 21 abgefangene Pässe sind einsame Spitze, da kann selbst der Arbeiter im englischen Mittelfeld nicht mithalten. Eine von Phillips' Stärken ist die Laufintensität: Mit 67,3 Kilometern weist er den dritthöchsten Wert am laufenden Turnier auf – Jorginho überflügelt ihn auch in dieser Hinsicht. Der 29-Jährige holt diesen Punkt für die «Azzurri» deutlich.
Marco Verratti kam erst im dritten Gruppenspiel für den bis dahin starken Manuel Locatelli in die Startelf und ist seitdem aus dem italienischen Team nicht mehr wegzudenken. Zwei Vorlagen gab Verratti in seinen vier Spielen und konnte im Verhältnis zu seiner Einsatzzeit deutlich mehr Chancen kreieren als jeder andere Spieler der EM. Gleichzeitig ist er auch bei gegnerischem Ballbesitz aktiv und konnte seinen Gegenspielern bereits siebenmal von der Kugel trennen. Damit befindet er sich in den oberen Rängen, wie auch bei der Eroberung von freien Bällen.
Rice muss seine Rolle im System von Gareth Southgate stärker defensiv interpretieren. Anders als bei West Ham ist der 22-Jährige bei den «Three Lions» kaum ins Offensivspiel involviert. Daher sind die Statistiken des Engländers auf dieser Seite des Feldes nicht mit Verratti zu vergleichen, doch auch in der Arbeit gegen den Ball ist ihm der Italiener überlegen. Die «Squadra Azzurra» entscheidet das zweite Mittelfeldduell für sich.
Barella und Mount haben eine erfolgreiche Saison hinter sich: Der Italiener konnte mit Inter Mailand den Meistertitel feiern, der Engländer wurde mit Chelsea Champions-League-Sieger. Beide haben nun also die Chance, ihr Jahr mit dem Europameister-Titel zu krönen. Im Nationaltrikot konnte Nicolo Barella bisher mehr überzeugen. Der 24-Jährige ist ein Fixpunkt im Angriffsspiel und konnte mit dem Führungstreffer gegen Belgien sowie einem Assist glänzen.
Mount war noch nicht besonders auffällig, was aber auch an der zehntägigen Quarantäne liegt, die ihm nach dem zweiten Gruppenspiel auferlegt wurde. Bei Chelsea war er einer der besten und konnte im Champions-League-Final den Assist zum entscheidenden Tor geben. Obwohl er sein Potenzial an der EM noch nicht wirklich zeigen konnte, ist er immer für einen Exploit gut. Barella und Mount teilen sich die Punkte.
Wenn man die Klubsaisons der beiden Flügelspieler vergleicht, wäre dieses Duell eine klare Sache. Insigne ist der beste Spieler bei Neapel und war an 27 Toren direkt beteiligt. Sterling hingegen hat eine schwierige Saison hinter sich. Unter Pep Guardiola wurde er zum Ende der Saison immer seltener eingesetzt. Das Vertrauen von Gareth Southgate scheint ihm aber neues Leben einzuhauchen.
Sterling spielt eine hervorragende Europameisterschaft und konnte bereits drei Tore sowie eine Vorlage zum Erfolg der «Three Lions» beisteuern. Nur wenige Spieler haben mehr Torschüsse zu verzeichnen, bei den «Expected Goals» ist Sterling auf dem obersten Platz. Der 26-Jährige suchte von allen Spielern am häufigsten das Dribbling und war dort sehr erfolgreich. Lorenzo Insigne ist zwar auch fast überall oben mit dabei, doch übertrifft ihn der Engländer in den meisten Bereichen.
Obwohl Sterling sich für sein einfaches Fallen im Strafraum des Halbfinal-Gegners Dänemark zurecht Kritik anhören muss, gewinnt er das Duell zwischen zwei prägenden Figuren des Erfolgs der Finalisten.
Auf der anderen Seite des Sturms kommt es zum Duell zwischen zwei der Entdeckungen der vergangenen Saison. Nach starken Leistungen in Florenz wurde Federico Chiesa von Juventus verpflichtet – ein Wechsel, der sich für beide Seiten ausbezahlt machte. Der 23-Jährige spielte eine hervorragende Saison und konnte im Nationalteam Domenico Berardi, der stark in die EM startete, ausstechen.
Chiesa ist einer der schnellsten Spieler der EM und konnte beim Führungstreffer gegen Spanien auch sein Ballgeschick unter Beweis stellen. Da kann Arsenal-Flügel Bukayo Saka noch nicht ganz mithalten. Auch er musste sich den Platz in der Startaufstellung während des Turniers erarbeiten und konnte gegen Dänemark mit einem Assist glänzen. Der 19-Jährige befindet sich aber noch in der Entwicklung und muss noch an einigen Bereichen arbeiten, während Chiesa aktuell der komplettere Spieler ist. Dieser Punkt geht an Italien.
Im Sturm setzen beide Finalisten auf eher traditionelle Stürmertypen. Sowohl Immobile als auch Kane sind durchsetzungsfähige Neuner mit einer hohen Strafraumpräsenz. Harry Kane ist aber einer der Top-Stürmer der Welt, während sich der Italiener mindestens eine Stufe darunter bewegt.
Nach einem etwas enttäuschenden Start ohne Tor in der Gruppenphase hat Harry Kane den Tritt in der K.o.-Phase gefunden und kann sich sogar noch Hoffnungen auf die Torjägerkrone machen. Immobile ist seit dem Treffer gegen die Schweiz torlos geblieben und konnte nicht dieselbe Effizienz wie der englische Goalgetter aufweisen. Auf der Position des Mittelstürmers ist England im Vorteil.
In den jeweiligen Ländern werden beide Trainer bereits als Helden gefeiert. Roberto Mancini übernahm die italienische Nationalmannschaft nach der verpassten Qualifikation für die WM 2018 und formte in drei Jahren eine mehr als schlagkräftige Truppe.
Gareth Southgate konnte die Kritik an seinem Spielsystem, das vielen zu defensiv war, verstummen lassen. Auch die Stimmen, die gewisse Spieler wie Jadon Sancho forderten, sind nicht mehr zu hören. Der Erfolg gab dem Trainer recht – zum ersten Mal seit 55 Jahren steht England in einem Finale.
Dennoch ist die Arbeit des Italieners höher zu bewerten. Die «Azzurri» sind seit 33 Spielen ungeschlagen und spielen einen begeisternden Offensivfussball – etwas, was man von italienischen Turniermannschaften noch nicht kannte. Zudem formte er ein Team, bei dem die Mannschaft der Star ist und kein einzelner Spieler. Im Viertelfinal besiegten sie den Mitfavoriten aus Belgien und konnte im Penaltyschiessen gegen Spanien Eiseskälte beweisen. Die Engländer hatten einen einfacheren Weg ins Finale und müssen erst noch zeigen, dass sie gegen ein Team mit Italiens Qualität bestehen können.
Seit der Corona-Pause, aufgrund welcher die Anzahl der möglichen Einwechslungen erhöht wurde, haben die Ersatzspieler einen noch grösseren Einfluss. Fünfmal dürfen die Trainer nun wechseln und so versuchen, neue Akzente zu setzen, im Falle einer Verlängerung käme noch eine sechste Wechselmöglichkeit hinzu. Deshalb lohnt sich ein Blick auf die Bankspieler noch stärker als zuvor.
Dabei stellt man schnell fest, dass England in der Tiefe besser besetzt ist. Während Mancini mit Domenico Berardi, Manuel Locatelli und Matteo Pessina gute Spieler bringen kann, hätte die Ersatzbank der «Three Lions» selbst noch sehr gute Chancen gegen einige der EM-Teilnehmer. Alleine Jadon Sancho, Marcus Rashford, Phil Foden und Jack Grealish kommen gemeinsam auf einen Marktwert von 330 Millionen Euro – mehr als die gesamte italienische Bank zusammen. Zusätzlich sitzen auch erfahrene Profis wie Kieran Trippier oder Jordan Henderson am Spielfeldrand. Dieser Punkt geht klar an die Insel.
Italien und England geben sich gesamt gesehen nichts. Beides sind herausragende Mannschaften, die ein Turnier auf höchstem Niveau spielten. Während England auf den Aussenpositionen etwas besser besetzt ist, gehört die Mitte den Italienern. Die Zentrale um Jorginho, Marco Verratti und Nicolo Barella ist Weltklasse – die offensive Durchschlagkraft der Engländer um Harry Kane und Raheem Sterling aber ebenfalls.
Auch an der Seitenlinie ist kein klarer Favorit auszumachen: Mancini ist der etwas bessere Trainer, dafür kann Southgate bei den Einwechslungen aus dem Vollen schöpfen. So steht uns ein Final bevor, wie man ihn sich besser nicht wünschen kann. Mindestens 90 spannende und intensive Minuten sind zu erwarten, und es wäre auch nicht überraschend, wenn am Ende die Königsdisziplin der Zitterpartie entscheiden müsste: das Penaltyschiessen. Nach dem Halbfinal gegen Spanien könnte man hier einen kleinen Vorteil für Italien vermuten – doch auch hier gilt: Der Ausgang ist völlig offen.