Seit Urs Fischer den 1. FC Union Berlin im Juli 2018 übernommen hatte, ging es für den Zürcher Trainer und den Klub aus dem Osten der deutschen Hauptstadt immer nur bergauf. Im ersten Jahr führte Fischer die «Eisernen» erstmals in die Bundesliga, danach resultierten die Plätze 11, 7, 5 und 4. Aus einem Zweitligisten wurde innerhalb von vier Jahren ein Champions-League-Teilnehmer.
Die Einnahmen konnten im Vergleich zur Vorsaison um über 50 Millionen Euro auf knapp 175 Millionen Euro während der Saison 2022/23 gesteigert werden. So konnten Spieler wie Robin Gosens für 13 Millionen Euro von Inter Mailand oder Weltstar Leonardo Bonucci verpflichtet werden.
Es ist eine Erfolgsgeschichte, die im modernen Fussball seinesgleichen sucht. Doch in der laufenden Saison steckt Union Berlin in einer Krise. Acht Spiele in Serie gingen nun verloren, zuletzt unterlag Union dem VfB Stuttgart 0:3. Für Fischer und viele seiner Spieler ist es die erste echte Krise in den letzten Jahren – und so müssen diese auch erst lernen, wie sie damit umgehen sollen.
«Es ist schwierig, die Fehler abzustellen, weil so eine Niederlagenserie etwas mit dem Kopf macht», sagt beispielsweise Robin Knoche. Der 31-jährige Innenverteidiger ist seit drei Jahren eine absolute Stütze des Teams und trägt als Abwehrchef eine grosse Mitverantwortung für die starke Defensive der letzten Jahre. Diese ist nun aber eines der grössten Probleme.
Seit dem Aufstieg gehörte Union Berlin zu den Teams, in deren Spielen es am wenigsten Tore zu sehen gab. In der letzten Saison stand das Team von Urs Fischer mit 2,6 Toren pro Spiel auf beiden Seiten gar auf dem letzten Platz in dieser Kategorie. Das lag vor allem an der hervorragenden Defensive, die regelmässig zu den besten der Bundesliga gehörte. Dank der wenigen Gegentore reichte es trotz durchschnittlicher Offensive zu vielen – meist knappen – Siegen.
Doch nun muss Goalie Frederik Rönnow pro Spiel über zweimal hinter sich greifen. Damit steht die gemeinsam mit den Bayern beste Defensive der letzten Saison in Sachen Gegentoren nach acht Spieltagen in der unteren Tabellenhälfte. Immer wieder passieren Fehler, welche dem starken Kollektiv in den letzten Jahren nahezu nie passiert wären. «Das sind nicht wir, das ist nicht Union-like», meint Captain Christopher Trimmel, der seit 2014 bei den «Eisernen» spielt.
Das bemängelt auch Fischer, der zum ersten Gegentor gegen Stuttgart sagt: «Das hätten wir einfach verteidigen können.» Nur läuft bei Union Berlin derzeit nichts einfach, auch der erwünschte Effekt durch die ablösefreie Verpflichtung von Leonardo Bonucci blieb aus. Zwar zeigte er bei seinem Union-Debüt in der Champions League gegen Real Madrid eine starke Leistung, doch sahen die Berliner Fans in der Bundesliga eine andere Seite des 36-jährigen Italieners.
Der Spruch «aus einer Chance zwei Tore machen» passte in den letzten Jahren auf kaum ein Team besser als auf Union Berlin. Ein Blick auf die Expected-Goal-Werte (xG) verrät: Die Köpenicker holten über die Saison gesehen eigentlich immer mehr raus, als gemäss der Statistik zu erwarten gewesen wäre.
Am krassesten zeigte sich das im letzten Jahr, als Union mit einer Tordifferenz von +13 auf Platz vier stürmte. Dabei erzielten Sheraldo Becker, Kevin Behrens und Co. gemäss xG-Wert 13 Tore zu viel, während die Defensive um Knoche und Trimmel fast fünf Treffer zu wenig zuliess. Dass es schwierig werden würde, dies zu wiederholen, war offensichtlich. Nur dass das Pendel so stark in die andere Richtung ausschlägt, überrascht doch.
Hapert es offensiv vor allem auch daran, Chancen herauszuspielen, fielen auf der anderen Seite gemäss xG-Wert über fünf Tore zu viel. Hatte der 1. FCU in der Vergangenheit sicher auch oft Glück, wird er nun von einer Pechsträhne heimgesucht. Dies zeigte sich in dieser Saison vor allem in den Spielen gegen Wolfsburg und Heidenheim, die auswärts jeweils knapp verloren gingen, obwohl die Gäste in beiden Spielen überlegen waren. Holt Union dort nur zwei der sechs möglichen Punkte, wäre es jetzt auf Platz 10 und nicht fünf Positionen weiter hinten.
Ein weiterer Grund für die Negativserie des ehemaligen DDR-Klubs könnte auch sein, dass die Gegner sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Überliessen Fischers Mannen in der Vergangenheit meist dem Gegner das Spiel und setzten oftmals auf Konter, geht Union nun immer häufiger als Favorit in die Partie, und der Gegner steht dementsprechend tiefer und agiert passiver.
Zwar spielen die Berliner noch immer keinen Ballbesitzfussball und kamen beim 4:1-Sieg in Darmstadt am 2. Spieltag nur auf 33 Prozent Ballbesitz, doch verdeutlichen gerade die Spiele, in denen sie vermehrt mit dem Ball agieren müssen, diese Probleme. Eine echte Lösung haben Fischer und sein Team gegen solche Gegner noch nicht gefunden, vielmehr fehlt es in der Offensive noch an der Kreativität und der letzten Konsequenz. «Wir konnten kaum einen Ball halten und die Zuspiele waren zu unpräzise», sagte Fischer nach dem 0:3 gegen Stuttgart.
Trotz der acht Niederlagen in Serie ist an der Alten Försterei aber längst nicht alles negativ. Ans Aufgeben denkt weder das Team noch Trainer Fischer: «Wieso soll ich hinwerfen? Dafür hat es die Mannschaft in den letzten Spielen viel zu gut gemacht.» Auch Captain Trimmel und Knoche sahen gegen Stuttgart gute Ansätze, nur fehlt es noch an der Konstanz über 90 Minuten.
Fischer zeigt sich zudem sicher, dass «die Worte des Trainers bei der Mannschaft noch ankommen». Vor einer Entlassung muss sich der 57-Jährige ohnehin nicht fürchten, obwohl er sagt: «Am Schluss ist Fussball ein Resultatsport, es geht um die Tabelle. Und die sieht im Moment nicht gut aus.» Doch Sportdirektor Oliver Ruhnert weiss, was er am früheren Basler Meistertrainer hat: «Wir sind absolut bereit, diesen Weg gemeinsam zu gehen. Das weiss Urs Fischer auch, und diese Rückendeckung kennt er.»
Um aus dem Negativstrudel herauszukommen, gelte es gemäss Fischer nun, die Situation anzunehmen und eine Antwort zu finden. «Und zwar am Dienstag.» Dann trifft Union Berlin im zweiten Champions-League-Heimspiel im Olympiastadion nämlich auf die SSC Napoli (21 Uhr).