Ein Spiel in der National Football League mit seinen vielen Unterbrüchen dauert im Schnitt mehr als drei Stunden. Eine recht lange Zeit. Und am Ende kommt es dann doch sehr oft bloss darauf an, dass ein einziger Mann die Nerven behält: der Kicker.
Sein Fuss entscheidet häufig eine enge Partie. Ein Schuss ins Glück – oder in die Arbeitslosigkeit. Je nachdem, ob der Football seinen Weg durch das Torgestänge findet. Es gab schon oft Kicker, die am Tag nach einem Fehlschuss die Kündigung erhielten. Vom langjährigen Trainer Buddy Ryan stammt das Bonmot: «Kicker sind wie Taxis, man kann sich stets ein anderes mieten.»
Justin Tucker droht das Schicksal der Arbeitslosigkeit nicht so schnell. Der 32-Jährige von den Baltimore Ravens gilt als Bester seiner Zunft. In der vergangenen Saison gelang ihm ein Field Goal aus 66 Yards, womit er einen neuen NFL-Rekord aufstellte. Bei 37 Versuchen, ein Field Goal zu schiessen, schaffte er es 35 Mal. Dazu blieb Tucker die gesamte Spielzeit über fehlerlos, als es in 32 Anläufen darum ging, nach einem Touchdown mit seinem Kick den Extra-Punkt zu sichern.
Das sind lauter Werte, die Tucker zu einem begehrten Spieler machen. Soeben hat er einen neuen Vertrag bei den Ravens unterschrieben, obwohl der alte noch zwei Jahre gültig war. Doch Baltimore erkannte seinen Wert und schraubte den Lohn in die Höhe: 24 Millionen Dollar erhält Justin Tucker in den kommenden vier Saisons. So viel Geld hat noch nie vorher ein Kicker erhalten. Im Schnitt kassiert ein Kicker rund 2,5 Millionen Dollar im Jahr – weniger als die Hälfte von Tucker.
«Ich bin begeistert, ich bin gesegnet», freute sich Tucker. Er wisse, dass er «an einem grossartigen Ort mit grossartigen Menschen» arbeiten könne. In Baltimore sei man daran, etwas aufzubauen, um Titel zu gewinnen. «Zu wissen, dass man auf mich setzt und dass ich ein Teil dieses Plans bin, ist ein ganz besonderes Gefühl.»
“It means the world to me to continue my career here in Baltimore. This is my home and I couldn’t be happier.” @jtuck9 pic.twitter.com/0uCXTErylZ
— Baltimore Ravens (@Ravens) August 8, 2022
Erst wenige Tage zuvor gaben schon die Pittsburgh Steelers viel Geld für einen Kicker aus: Chris Boswell unterschrieb für vier Jahre, in denen er insgesamt 20 Millionen Dollar erhält. Tucker ist mit seinem neuen Vertrag noch besser bezahlt, aber ihm sei es nicht darum gegangen, in finanzieller Hinsicht die Nummer 1 der Liga zu sein. «Das klingt schon schön, das will ich gar nicht abstreiten. Aber am wichtigsten war und ist für mich, dass ich in die Pläne eingebunden bin, die auf den Gewinn des Super Bowl abzielen.»
Dass die Ravens auf ihren Kicker zählen können, wissen sie in Baltimore schon lange. Für den Head Coach John Harbaugh ist sein Akteur «der beste Kicker der Geschichte». Gleich in der Rookie-Saison 2012 gewann Tucker mit seinem Team den Super Bowl. Seither bringt er es auf die sagenhafte Field-Goal-Erfolgsquote von 91,1 Prozent – ein Rekord. Dass er die Rückennummer 9 trägt, wie die klassischen Fussball-Torjäger, passt. Tucker lief in seiner Laufbahn bisher 358 Mal an und traf 326 Mal.
Um das zu schaffen, muss nicht nur der Fuss trainiert werden. Eine starke Psyche ist zwingend, denn der Druck, der auf einem Kicker lastet, kann riesig sein. «Im Football besteht eine Partie selbst für einen normalen Spieler meist aus viel Warterei. Für einen Kicker ist es praktisch nichts anderes als warten», fasste die «New York Times» es einst zusammen. Star-Kicker Adam Vinatieri stellte fest: «Ich bin höchstens für 60 Sekunden auf dem Feld und muss mir überlegen, was ich mit dem Rest der Zeit anfangen soll.»
Der im Frühling 2021 zurückgetretene Vinatieri war ein Kicker, der mit dem gewaltigen Druck, der auf diesen Spielern lastet, umgehen konnte. Er gewann vier Mal den Super Bowl, zwei der Finals entschied er durch ein Field Goal in den letzten Sekunden der Partie. Der Kopf sei massgebend bei einem NFL-Kicker, betonte Vinatieri, nicht der Fuss. «Wir befinden uns auf einer Insel, jeder schaut nur auf uns. Was den einen Kicker vom anderen unterscheidet: Kannst du es auch, wenn du im Scheinwerferlicht stehst?»
Die Situation ist ähnlich wie bei einem Penalty im Fussball. Mit dem Unterschied, dass es dort mit dem Goalie einen Helden geben kann, im Football aber immer nur der Schütze selber über sein eigenes Schicksal und das seiner Mannschaft entscheidet.
Nebst der Psyche ist selbstverständlich auch die Ausführung wichtig, wenn das Ei zwischen den Torstangen hindurch fliegen soll. Ganz alleine ist der Kicker dann doch nicht, er bildet ein Team mit dem Long Snapper und dem Holder. Das Trio muss eingespielt sein wie die Boxen-Crew eines Formel-1-Rennstalls beim Reifenwechsel. Denn die Aktion – der Long Snapper wirft das Ei zum Holder, der es bis zum Kick festhält – dauert bloss etwa 1,3 Sekunden. Übung macht den Meister. «Justin ist in der Lage, jedes Mal dieselbe Technik anzuwenden und den Ball immer gleich zu treffen», beschrieb Tuckers langjähriger Long Snapper Morgan Cox. «Das kann nicht jeder Kicker und das ist es, was ihn wirklich gut macht.»
Was 40 Yards und näher an den Torstangen liegt, versenkt er praktisch immer (178 von 181 Versuchen), was seinen Quarterback Lamar Jackson zum schönen Wortspiel «Automa-Tuck» inspirierte. Und ist das Spiel auf Messers Schneide, dann ist auf Tucker erst recht Verlass. In diesem Moment ist er komplett im Tunnel. Erst hinterher wird ihm bewusst, was auf dem Spiel stand. «Wenn wir mit einem Field Goal gewinnen, werde ich danach nervös und frage mich: ‹Mann, was wäre, wenn es nicht so gelaufen wäre, wie wir es wollten?›», verriet er ESPN.
Dank Tuckers Qualitäten werde sein eigener Job viel einfacher, sagte Quarterback Jackson, als der Kicker wieder einmal mit einem Treffer in der letzten Minute für einen Sieg der Ravens sorgte. «Wir müssen am Ende nicht zwingend noch einen Touchdown erzielen, um zu gewinnen. Manche Trainer haben kein Vertrauen in ihre Kicker, doch wir setzen voll auf ihn. Wir müssen ihm nur eine möglichst gute Position für seinen Versuch verschaffen, den Rest erledigt ‹Tuck› dann automatisch.»
Bis 2028 wird Justin Tucker für die Ravens auflaufen. Mindestens. Denn weil Kicker wesentlich weniger verletzungsanfällig sind als ihre Mitspieler, liegen auch richtig lange Karrieren drin: Adam Vinatieri, der vor Tucker lange als bester Kicker der NFL galt, spielte, bis er 47 Jahre alt war.
Kannst den besten Kicker hinstellen, wenn das Ei falsch platziert wird. Aber so geht es generell in den NFL. Was bringt dir ein guter QB wenn die O-line nicht hält, oder ein guter WR wenn der QB nicht platziert wirft, etc.
Go Niners!