Andreas Ruefer hat ein Talent zum Entertainer. Kein Wunder: Er ist der Bruder von Kult-TV-Reporter Sascha Ruefer. Im Hauptberuf ist Andreas Ruefer Gastrounternehmer mit einer Subway-Filiale im Shoppyland zu Schönbühl (BE) und nebenher amtiert er auch als Kommunikations-General für den EHC Biel. Eine halbe Stunde vor dem Spiel obliegt es ihm, die Chronisten-Schar zu begrüssen. So wie das bei allen Klubs Brauch ist. Er hat sich am Dienstagabend eine launige Begrüssung einfallen lassen: «Herzlich willkommen zum heutigen Juniorenspiel.»
Nun ja, ein wenig ist das schon übertrieben. Aber trifft den Kern der Sache. Trainer Martin Filander (43) hat mit den Verteidigern Niklas Blessing (18), Gaël Christe (20), den Stürmern Livio Christen (19), Jonah Neuenschwander (15) und Nolan Cattin (18) fünf Junioren aufs Matchblatt schreiben lassen. Was zwar von der Anzahl her ungewöhnlich ist. Aber vorerst noch wenig heissen will: Ab und an werden Junioren aufgeboten, aber dann kaum eingesetzt.
Aber es wird tatsächlich ein wenig ein Junioren-Spiel: Niklas Blessing bekommt exakt 17:00 Minuten, Jonah Neuenschwander 14:39, Livio Christen 12:46 und Gaël Christe 7:47 Minuten Eiszeit. Nur Nolan Cattin geht für einmal leer aus.
Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf Jonah Neuenschwander. Er ist im März erst 15 geworden und dürfte vom Jahrgang her im helvetischen Fussball noch nicht in einem Spiel der Erwachsenen eingesetzt werden. «Im Eishockey gibt es keine reglementarische Limite», sagt Liga-Direktor Denis Vaucher. Sportchef Martin Steinegger ergänzt: «Wir haben noch abgeklärt, ob es ein arbeitsrechtliches Problem geben könnte. Das ist nicht der Fall.» Mit 15 schon mit den bösen Hunden bellen. Geht das? Geht problemlos. Jonah Neuenschwander ist bereits 190 Zentimeter gross und 82 Kilo schwer. Er rockt gerade die höchste Junioren-Liga (U20-Elit) mit 10 Toren und 13 Assists aus 25 Partien. Aber bemerkenswert ist ein Debüt mit 15 in einer Profiliga schon. Trainer Martin Filander sagt: «Das ist auch in Schweden sehr selten und selbst ein Debüt mit 16 höchst ungewöhnlich.»
Ein NL-Debüt mit 15 weckt in Biel nostalgische Erinnerungen. Zuletzt hatte ein Bieler vor 30 Jahren im Laufe der Saison 1994/95 mit 15 seinen ersten Auftritt in der höchsten Liga. Er wird es später zum ersten NHL-Erstrunden-Draft mit Schweizer Pass bringen und mit 21 sein erstes NHL-Spiel bestreiten. Auch wenn es bei 12 NHL-Partien (1 Assist) geblieben ist, so hat er doch eine famose Karriere gemacht. Mit über 700 Spielen in der höchsten Liga und vier Titeln mit dem HCD. 2006/07 war er mit 37 Treffern auch bester Torschütze der Liga. Sportchef Martin Steinegger (52) war damals beim ersten NL-Auftritt von Michel Riesen als Verteidiger dabei. «Aber im Detail erinnere ich mich nicht mehr an das Spiel. Ich war ja später in Bern auch beim Debüt von Roman Josi mit dabei und kann auch nicht mehr genau sagen, wie er bei seinem Debüt gespielt hat …»
Jonah Neuenschwander ein NHL-Erstrundendraft wie Michel Riesen? Hockeytechnisch mag das möglich sein. Eine NHL-Postur hat er schon und eine Beweglichkeit, die bei einem jungen Spieler mit seiner Grösse eher selten ist. Und er steuert bei seinem Debüt gleich den Assist zum 1:0 bei. Aber auf dem Weg nach oben gibt es so viele Unabwägbarkeiten.
Biels Trainer setzt seinen 15-jährigen Debütanten nicht in der vierten Linie an den Katzentisch. Er lässt ihn neben den beiden ausländischen Stürmern Jere Sallinen und Aleksi Heponiemi und gleich noch fast eine halbe Minute im Powerplay laufen und wird hinterher sagen: «Spieler können sich nur entwickeln, wenn sie eine Chance bekommen.» Wo er recht hat, da hat er recht: Einsätze mit dem Tropfenzähler bringen wenig. Entweder ganz oder gar nicht.
Ob der Konzentration auf Jonah Neuenschwander geht fast vergessen, dass Livio Christen bei seinem NL-Debüt zum Siegestreffer von Luca Christen (zum 2:1) den entscheidenden Pass spielt. Die beiden sind nicht miteinander verwandt.
Und doch ist die Frage: Wie ist dieses Junioren-Spiel möglich geworden? Dafür gibt es drei Gründe. Erstens das Verletzungspech. Mit Luca Cunti, Jérémie Bärtschi, Lias Andersson, Gaëtan Haas und Damien Brunner fehlen fünf offensive Titanen. Zweitens der Mut des Trainers und drittens eine «Achse des Guten».
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
Die jungen Spieler wollen alle fördern. Aber nicht alle tun es. Nachhaltig kann es nur mit einer «Achse des Guten» funktionieren. Sie verläuft von ganz oben bis ganz unten: vom Präsidium zum Sportchef, zum Trainer, zum Nachwuchschef und bis zum Spieler. Ohne den sicheren Rückhalt beim Präsidium empfiehlt kein Sportchef dem Trainer den Einsatz der Junioren und jammert lieber über Verletzungspech. Ohne sicheren Rückhalt beim Sportchef wagt kein Trainer, einen 15-Jährigen neben den Ausländern einzusetzen, begnügt sich mit ein paar Alibi-Einsätzen, wenn das Spiel entschieden ist, und sucht lieber gute Ausreden. Ohne enge Zusammenarbeit mit den Nachwuchstrainern ist der sinnvolle Einsatz der Talente nicht sinnvoll. Nur wenn eines zum anderen führt wie im Kinderreim «Joggeli söll ga Birli schüttle», nur wenn es diese Achse, diese Linie, diese Philosophie im Klub gibt, kann es funktionieren.
Biels Trainer lobt die gute Zusammenarbeit mit der Nachwuchsabteilung und beobachtet, wenn immer möglich, die Spiele der Junioren. Gemeinsam werde über Einsatzmöglichkeiten entschieden. Jonah Neuenschwander wird nun nicht bis Saisonende in der National League stürmen. Er wird dosiert eingesetzt und mehrheitlich weiterhin bei den Junioren über die Aussenbahnen fegen. «Es ist wichtig für die Entwicklung und das Selbstvertrauen eines jungen Spielers, dass er auf dem Eis auch wieder dominieren kann», begründet Martin Filander die geplante Rückkehr des grossen Talentes zu den Junioren.
Sorgfältige Betreuung und Beobachtung stellt sicher, dass auch der Energiehaushalt stimmt und es nicht zu einer Überforderung kommt. Zur Betreuung gehört eine gewisse Abschirmung. Selbst Claude Jaggi, Bieler durch und durch und vom staatstragenden Radio SRF, darf mit Jonah Neuenschwander nach dem Spiel kein Interview machen. Der Trainer sagt, diese verordnete Medienabsenz helfe dabei, demütig zu bleiben und nicht abzuheben. «Jonah muss ja auch noch zur Schule gehen.»
Das Juniorenspiel bringt Biel einen 6:1-Sieg über Lausanne. Der Playoff-Finalist spielt gar nicht so schlecht. Aber die Bieler erleben so etwas wie eine rauschende Ballnacht der Eishockey-Jugend: Fast alles gelingt. Es ist ihre beste Saisonpartie. Sie fliegen übers Eis. Sie kombinieren mit Direktpässen wie in den besten Zeiten unter Antti Törmänen. Die Prise Unbeschwertheit, Mut und Dynamik der Jungen ist der Sauerstoff des Bieler Spiels. Das Publikum ist begeistert und der Trainer lobt: «Junge Spieler bringen immer wieder Energie und Enthusiasmus in die Kabine.»
Nun gleich am Freitag gegen den SC Bern eine Wiederholung dieses Spektakels zu erwarten, wäre vermessen, ja unseriös. Aber die «Achse des Guten» funktioniert und auch dann, wenn die blessierten Titanen nach und nach ins Team zurückkehren, wird in Biel weiterhin eine gezielte Förderung der jungen Talente möglich sein. Das gehört zur Philosophie des Klubs.
Und da ist an diesem Dienstagabend noch etwas. Sechs Ausländer lassen keinen Freiraum mehr für den Einbau von Talenten? Keine Nachwuchsförderung in der National League? Wer die Liga nicht kennt und isoliert nur die Spiele vom Dienstag verfolgt, kommt zu einem ganz anderen Schluss: Für Langnau erzielt Timo Jenni (20) in Lugano das 1:0. Ludvig Johnson (18) trifft für Zug gegen Kloten zum 1:0 und Alessandro Segafredo (20) steuert beim 4:1 der ZSC Lions in Rapperswil-Jona einen Assist bei. Lausanne vertraut auf die beiden Junioren-Goalies Kevin Pasche (21) und Antoine Keller (20) und hat nur einen Punkt Rückstand auf Tabellenführer ZSC Lions.
Die National League ist die Liga der Talente, nicht der Ausländer und teuren Schweizer Stars. Oder?
Gratulation an Biel für das gestrige Spiel!