Es gibt Spiele, die lassen sich nie mehr wiederholen. Weil sie mit allem Glück der Welt gewonnen werden. Und alle wissen, dass es für lange Zeit ein einmaliger Triumph bleiben wird. Wie beispielsweise der Sensationssieg (4:3) von Weissrussland gegen Schweden im Viertelfinale des olympischen Turniers von 2002 in Salt Lake City. Oder das 3:2 der Schweizer bei der WM 1972 gegen Finnland.
Der Triumph von Paris über Kanada war kein solches Spiel. Ja, nicht einmal eine Sensation. Es war mehr eine Bestätigung für die Qualität unseres Hockeys und unserer Liga. Es war eine Partie, die erstmals seit der Silber-WM von 2013 gezeigt hat, welches Potenzial in unserem Nationalteam steckt. Ein Potenzial, das wegen mancherlei Irrungen und Wirrungen seit 2013 nie mehr richtig ausgeschöpft worden ist.
Es war auch eine Partie, in der die Schweizer ab Spielmitte endlich wieder das Selbstvertrauen, den Mut, die Leidenschaft und die Stilsicherheit zeigten, die wir seit der Silber-WM von 2013 so oft vermisst haben. Und es war die erste Partie seit der Silber-WM von 2013 in der einer unserer Torhüter wieder «auf dem Kopf stand». Also sein allerallerbestes Hockey spielte und so der Mannschaft die Sicherheit und Energie gab, die es für solche Siege braucht.
Ein war Spiel wie ein Hurrikan und es war, vom Verlauf her, der dramatischste Schweizer Sieg gegen einen Grossen in der Neuzeit. Denn anders als bei den grossen Siegen von Stockholm 2013 (gegen Schweden, Kanada, Tschechien und die USA) begann das Spiel nicht nach Fahrplan. Ja, es schien schon früh alles verloren.
Es war wie bei einem Hurrikan. Ein Hurrikan beginnt mit einer sanften Brise und endet mit einem Sturm, der alles verschlingt. So lässt sich die beste Partie seit der Silber-WM von Stockholm in einem Satz zusammenfassten.
Die Schweizer sind am Anfang völlig chancenlos. «We got hammered» («Wir sind überfahren worden») wird Patrick Fischer nach der Partie vor der internationalen Medienschar sagen. «Wir haben uns mit Glück aus dieser Situation befreit.» Er ist ein grosser Kommunikator und bleibt im Triumph bescheiden.
Das Spiel der Schweizer ist bis ins zweite Drittel hinein bloss eine sanfte Brise. Die Kanadier machen, was sie wollen. Dann kommt die Stunde des Bandengenerals Patrick Fischer. Nach dem 0:2 wechselt er Jonas Hiller in der 7. Minute aus. Wer es dramatisch mag: es ist der Sturz des NHL-Titanen. Ausgerechnet gegen die Kanadier.
Ist Jonas Hiller schuld an diesen zwei Gegentreffern? Ja und Nein. Ja, weil ein Torhüter mit einem aggressiveren Stil in beiden Situationen den Puck entweder aus der Gefahrenzone spedieren oder unter Kontrolle hätte bringen können. Nein, weil die Verteidiger Mitschuld tragen. Auch sie hätten mit einem aggressiveren Stil das Unheil verhindern können.
Der Entscheid, einen unserer grössten Torhüter aller Zeiten in einem WM-Spiel gegen Kanada auszuwechseln ist mutig. Es ist die taktische Massnahme, die Patrick Fischer in den Rang eines Bandengenerals erheben kann.
Dieser Torhüterwechsel ist der Anfang vom Ende für den Favoriten. Zweimal treffen die Kanadier gegen Leonardo Genoni noch den Pfosten und verpassen das 3:0 oder gar das 4:0. Aber ohne den Beistand der Hockey-Götter geht es nicht.
Die Windstärke des Schweizer Spiels nimmt ab Spielmitte immer mehr zu. Die Kanadier sind sich lange Zeit ihrer Sache zu sicher und zu arrogant um die Gefahr des heraufziehenden helvetischen Unwetters zu erkennen. Deshalb werden sie schliesslich im Schlussdrittel in den Grundfesten erschüttert und in der Verlängerung vom Eis gefegt. Gewiss, ein wenig Glück war dabei. Der Ausgleich (2:2) war ein Eigentor des kanadischen Torhüters. Aber die Schweizer haben das Glück erzwungen.
Zum ersten Mal überhaupt seit dem Wiederaufstieg von 1998 gewinnt die Schweiz bei einem Titelturnier gegen einen Grossen nach einem Zweitore-Rückstand.
ICYMI: It was @SwissIceHockey's Fabrice Herzog's incredible overtime winner that took down the mighty @HC_Men in tonight's game. pic.twitter.com/62XMheShLQ
— IIHF (@IIHFHockey) 13. Mai 2017
Leonardo Genoni wehrte 35 Schüsse ab und zeigte die beste Torhüterleistung gegen Kanada seit elf Jahren. Nie mehr seit Martin Gerber beim 2:0 gegen Kanada beim olympischen Turnier von 2006 in Turin 46 Pucks stoppte, ist ein Schweizer Torhüter gegen eine kanadische NHL-Auswahl so lange ohne Gegentreffer geblieben.
Symbolisch für die Wende ist eine Episode am Rande. Thomas Rüfenacht liefert sich mit Philadelphias Provokateur Wayne Simmonds (diese Saison 122 Strafminuten) im Schlussdrittel noch von der Spielerbank aus eine heftige verbale Auseinandersetzung in die auch noch Tanner Richard hineingezogen wird. Was ist da passiert? Thomas Rüfenacht: «Die Kanadier halten sich eben für unantastbar und werden schnell hässig, wenn sie herausgefordert werden.»
Das freche Selbstvertrauen des SCB-Stürmers symbolisiert die Rückkehr der Schweizer. Er erklärt sie so: «Es stand 0:2 und da sagten wir uns: Es spielt keine Rolle ob wir nun 0:2 oder 0:7 untergehen. Also versuchen wir es doch, gehen auf die Kanadier los und spielen vorwärts. Wir haben ja nichts mehr zu verlieren. Wir haben sozusagen doppelt oder nichts gespielt und es hat funktioniert.»
Eine Mannschaft, die gegen Absteiger Slowenien eine 4:0-Führung in knapp 17 Minuten verspielt, besiegt Kanada nach einem 0:2-Rückstand. So etwas hat es seit der Aufstockung der WM auf 16 Teams (seit 1998) noch nicht gegeben. Wie ist das möglich? Thomas Rüfenacht sagt: «Gerade wegen dieser Unberechenbarkeit lieben wir dieses Spiel und deshalb kommen die Fans ins Stadion. Weil man nie weiss, was passieren wird. Und es macht uns natürlich riesig Spass, auf diese Art und Weise eine Antwort auf die Kritik zu Beginn der WM zu geben.»
Doppeltorschütze Fabrice Herzog – sein erstes Tor zum 1:2 bringt den Energieschub für die Wende, das zweite in der Verlängerung (63:40 Min.) den Sieg – sagt: «Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich gegen Kanada zwei Tore schiessen könnte.»
Er hat bei diesem Turnier eine ganz besondere Geschichte geschrieben. Patrick Fischer sagt nach dem Spiel: «Ganz besonders freue ich mich über die Leistung von Fabrice Herzog.» Der ZSC-Stürmer hat die WM als überzähliger (13. Stürmer) begonnen. Deshalb kommt er statistisch bei dieser WM insgesamt nur auf eine durchschnittliche Einsatzzeit von 5 Minuten und 29 Sekunden. Und nun spielte er gegen Kanada 13:29 Minuten. Länger als während der vorangegangenen vier Partien. Und erzielte zwei Tore.
Patrick Fischer hat für die Partie gegen Kanada mit Denis Malgin seinen einzigen Spieler, der diese Saison mehr oder weniger regelmässig in der NHL zum Einsatz gekommen ist (47 Spiele/6Tore/4 Assists), auf die Tribüne gesetzt. Auch das ein richtiger Entscheid. Der ehemalige ZSC-Stürmer blieb in Paris in den ersten vier Partien mit einer Minus-Bilanz (-1) punktelos.
Das Unmögliche ist eben möglich. Diese Mannschaft war und ist talentiert genug für grosse Taten. Gerade deshalb war die Kritik nach den verstörenden Punktverlusten gegen Slowenien und Frankreich berechtigt – diese Ausrutscher hätten die ganze WM-Expedition beinahe vorzeitig scheitern lassen.
Wenn nun alles normal läuft, wenn nicht noch die Kathedrale von Notre Dame samt dem Glöckner in die Seine kippt, sind wir bereits im Viertelfinale. Da aber bei dieser WM vieles nicht normal läuft, sei darauf hingewiesen, dass es, um wirklich alle Eventualitäten auszuschliessen, noch drei Punkte für die Viertelfinals braucht.