Eine verrückte, atemberaubende Entwicklung! Mindestens so wie die von der Dampfmaschine zum Hosentelefon. Ein wunderschöner Tag im September 1993, oben am Lake Arrowhead. Die Los Angeles Kings sind im Trainingslager. Und ein Schweizer ist dabei! Eine Sensation! Es ist der Torhüter Pauli Jaks.
Mehrere Korrespondenten aus der Schweiz sind angereist, um dieses historische Ereignis zu würdigen. Und natürlich wird der grosse Wayne Gretzky gefragt, was er von Pauli Jaks halte. Er wirkt leicht irritiert. Neben ihm steht der Medienchef und flüstert ihm etwas zu. Da hellt sich seine Miene auf: «Ja, ein junger Goalie mit viel Potenzial.»
Wayne Gretzky, der grosse Star der Kings weiss gar nicht, wer Pauli Jaks ist. Der Schweizer ist nicht einmal ein Statist im grossen NHL-Theater. Jaks wird später der erste Schweizer, der in der NHL zum Zuge kommt (es bleibt bei einem Teileinsatz), heute arbeitet er als Goalie-Trainer in Ambri.
30 Jahre später. März 2023. Newark. Kein Ort für Ferien wie Lake Arrowhead. Wer etwas auf sich hält, reist nach New York. Keiner sagt, er sei in Newark gewesen. Hinüber nach Manhattan ist es mit der Eisenbahn zwar weniger als eine Stunde. Aber Manhattan ist eine andere Welt. Das wahre Amerika.
Das wahre Amerika? Das liegt im Auge des Betrachters. Newark ist das Amerika des wortgewaltigen Sozialkritikers George Packer («Die Abwickler»). Fast ein Drittel der Menschen hier lebt angeblich unter der Armutsgrenze. «Seien sie vorsichtig, laufen sie in der Nacht nicht alleine durch die Strassen» – so wird der Reisende allenthalben ermahnt. Fünf der letzten acht Bürgermeister sind wegen Korruption angeklagt und verurteilt worden. Noch in den 1990er-Jahren hatte Newark landesweit die höchste Mordrate.
So wenig Glamour wie Newark hat keine andere NHL-Stadt. Warum also ausgerechnet nach Newark reisen? Weil die Stadt eine der ersten Adressen des Welteishockeys ist. Hier sind die New Jersey Devils beheimatet, einst in den 1980er Jahren vom grossen Wayne Gretzky als «Mickey-Mouse-Team» verspottet (es ist der einzige verbale Ausrutscher des Grössten der Geschichte). Aber dann Stanley-Cup-Sieger 1995, 2000 und 2003.
Ein Schweizer sorgt in diesen Tagen dafür, dass die Devils erst recht im Gespräch sind. Timo Meier. Ein Appenzeller. Der 26-Jährige ist einer der interessantesten Spieler der wichtigsten Liga der Welt. Sein Vertrag läuft am Ende der Saison aus. Verlängert er bei den Devils? Oder kommt es erneut zu einem grossen Spielertausch?
Claude Lemieux (57) ist eine Legende, auch und gerade hier in Newark. Viermal hat er den Stanley Cup gewonnen. Zweimal mit den Devils. Seit seinem kurzen Gastspiel in Zug (Saison 2003/04) ist er mit der Schweiz verbunden. Für die in Cham domizilierte international vernetzt Agentur «4Sports» kümmert er sich ums NHL-Business. Lemieux ist der Agent von Timo Meier.
Dienstag, 14. März. Die Devils spielen gegen Tampa. Den Stanley Cup-Sieger von 2020 und 2021 und Finalist von 2022. Ein erfahrenes, raues Team. Das Mass aller Dinge.
Die Devils haben seit dem Final von 2012 die Playoffs nur noch einmal erreicht. Aber nun sind sie endlich wieder ganz vorne dabei. Jung, teuflisch schnell, dynamisch mit hochentwickelter Spielkultur. Aber da ist eine bange Frage: Robust genug für die Playoffs? Um playofftauglicher zu werden, haben die Devils Timo Meier in einem Tauschgeschäft geholt, in das neun Spieler involviert waren. Big Deal.
Claude Lemieux ist also wegen Timo Meier da. Und schaut sich das Spiel von der «Press Box» (der Medientribüne) aus an. Er könnte unten in den Luxus-Suiten sitzen. Aber dann wollen alle ein Selfie mit ihm und Autogramme und weil er ein freundlicher Mann ist, kann er nicht nein sagen. Hier oben hat er Ruhe. Wie wichtig Meiers Agent ist, zeigt sich in der ersten Pause. General Manager Tom Fitzgerald kommt zur Begrüssung vorbei. Will er Meier halten, dann geht das nur in den anstehenden Verhandlungen mit Lemieux. Frage an den Bürogeneral: Ist Claude Lemieux am Verhandlungstisch so zäh und bissig wie einst als Spieler? «Ach, ich habe früher gegen ihn gespielt. Ich weiss wie er ist …»
Timo Meier hat bis zu diesem Zeitpunkt in sechs Partien für die Devils erst ein Tor erzielt. Hat seine nachlassende Torproduktion hier in New Jersey einen Einfluss auf seinen Marktwert? Vor dem Wechsel hatte er in San José in 57 Partien 31 Mal getroffen. «Nein, überhaupt nicht», sagt Claude Lemieux. «Sein Wert ist unbestritten. Er gibt bei ihm hin und wieder eine Durststrecke. Das ist ganz normal. Alle wissen, dass er – bumm! – auf einmal wieder da ist.» Der Ketchup-Effekt: Man schüttelt und schüttelt vergeblich. Lange passiert nichts – und dann läuft es richtig.
Timo Meiers Vertrag, dotiert mit 10 Millionen Dollar, läuft aus. Er wird bei den New Jersey Devils oder eben anderswo verlängern. Claude Lemieux dreht am ganz grossen Rad. Angedacht ist ein neuer Kontrakt mit acht bis zehn Jahren Laufzeit. Für sieben bis zehn Millionen Dollar. Pro Saison.
Einmal kann Claude Lemieux, ein Mann mit wunderbarem Humor, seinen Unmut während des Spiels nicht verbergen. «Zu viele Primaballerinas! Hoffentlich stecken sie Timo mit ihrem Spiel nicht an …»
Er meint damit die technisch brillanten, leichtfüssigen Stürmer der Devils, die mit dem Puck tanzen und ihn nicht hergeben wollen, statt speditiv, direkt und vorwärts zu spielen. «Das macht es für Timo schwierig. Er braucht mehr Pucks.» Meier sei ein Mann fürs raue Direktspiel. Für den Torschuss. Lemieux nennt ihn einen offensiven Vorschlaghammer («Sledgehammer»).
Timo Meier war in San José in einem der schwächsten Teams der Liga das offensive Epizentrum. Wenn immer möglich wurde ihm der Puck zugetragen. San José hatte nur zwei Spieler neben Timo Meier, die mehr als 20 Treffer auf dem Konto hatten. Bei den Devils sind es vier. Die Devils verlieren gegen Tampa 1:4. Die Niederlage schmerzt. Also doch noch nicht playofftauglich?
Donnerstag, 16. März. Zwei Tage später messen sich die Devils im eigenen Stadion erneut mit Tampa. Claude Lemieux ist heute nicht mehr da. Er besucht drüben in Manhattan im Madison Square Garden ein Spiel der New York Rangers.
In Newark also zum zweiten Mal in drei Tagen gegen Tampa Bay Lightning. Es ist wieder ein intensives, dramatisches Spiel. Timo Meier kämpft. Ein wenig auch mit sich selbst. Das Spiel scheint erneut an ihm vorbeizulaufen. Die Devils liegen tief im Schlussdrittel 1:2 zurück.
Die offensiven Bemühungen sind wie das vergebliche Schütteln der Ketchup-Flasche. Und dann geht's doch. Timo Meier fällt der Puck vor die Stockschaufel und er trifft zum 2:2 (50.). Und als schon fast alles verloren scheint, nimmt Coach Lindy Ruff sein Time-Out, ersetzt im Powerplay Akira Schmid durch einen sechsten Feldspieler. Timo Meier trifft mit einem wuchtigen Schuss wie ein Donnerschlag zum 3:3. «Vorschlaghammer». So, wie es Claude Lemieux sagte.
Nur die Krönung gelingt nicht. Die Devils verlieren nach Penaltys. Timo Meier scheitert bei seinem Versuch. Aber nun ist er definitiv angekommen. Seine ersten beiden Treffer für die Devils auf eigenem Eis.
Nun ist er nach der Partie gegen Tampa erleichtert und zufrieden, dass er mit zwei Toren seine offensive Pflicht getan hat. Aber keineswegs euphorisch. «Ich hatte schon mehrmals eine Durststrecke und ich bewundere die Spieler, die konstant ihre Tore schiessen.» Wichtig sei, sich nicht zu sehr zu verkrampfen, wenn der Puck mal ein paar Spiele nicht reingeht. Einfach weiterarbeiten. Nicht aufgeben. «Dann funktioniert es wieder.»
Es ist die Gelassenheit eines ganz grossen Spielers, der weiss, was er kann. Timo Meier ist bei den Devils angekommen. Die «Operation Stanley Cup» kann beginnen.
Und Wayne Gretzky (62), der vor 30 Jahren nicht einmal wusste, dass ein Schweizer im Trainingscamp zu seinem Team gehörte, kennt jetzt im Ruhestand in Kalifornien sogar den Namen mehrerer Schweizer, die in der NHL spielen. Timo Meier ist nur einer davon. Was für eine verrückte, atemberaubende Entwicklung!