Eishockey hat die mit Abstand am höchsten entwickelte Kultur des «Storytelling». Also der Vermittlung von Informationen aus Vergangenheit und Gegenwart durch erfundene und wahre Geschichten. Al Purdy, Kanadas hochdekorierter Dichterfürst und Antwort auf Gotthelf, hat tiefe Wurzeln im Hockey und wie kaum ein anderer dazu beigetragen, mit seinen Dichtungen Eishockey in Kanada zu einer «Ersatz-Religion» zu machen. Hier eine Kostprobe:
Playoffs sind zwar sportlich eine «todernste» Angelegenheit. Es bleibt keine Zeit für «Storytelling». Ablenkung ist tabu. Aber wenn die Sache so klar ist wie beim Viertelfinalauftakt in Zürich und die ganz grossen Entscheidungen um den Titel sowieso noch hinter dem fernen Horizont der Zeiten schlummern, dann gibt es noch Freiraum für Storytelling.
Helden geraten schnell in Vergessenheit. Auf der Tribüne sitzt einer der Grossen der Zürcher Hockeykultur. Denis Hollenstein, WM-Silberheld von 2013, mehr als 700 Partien in der höchsten Liga, über 120 Länderspiele und Meister mit den ZSC Lions 2024. Der Sohn von Klotens Legende Felix Hollenstein hat wegen einer Knieverletzung seit der Meisterfeier kein einziges Meisterschaftsspiel bestritten. Im Oktober wird er 36. Noch viel zu jung für einen Rücktritt. Stürmer, die wie er über die Aussenbahnen fliegen, altern weniger schnell. Sein Vertrag läuft aus. Wie geht es weiter?
Denis Hollenstein weiss es noch nicht. «Ich muss zuerst einmal wieder gesund werden.» Noch trägt er über den Jeans eine Schiene, um das blessierte und operierte Knie zu stützen und zu schützen. Seine Berufseinstellung steht nicht zur Debatte und mit seiner Klasse und Erfahrung kann er nach wie vor Mehrwert in jedes Team der Liga bringen. Und doch ist die bange Frage: Wer gibt einem Stürmer in seinem Alter mit einer noch nicht ausgeheilten Verletzung einen neuen Vertrag?
ZSC-Sportchef Sven Leuenberger, durch jahrzehntelange Erfahrung im Business auch diplomatisch klug geworden, sagt auf die entsprechende Frage: «Wir sind im Gespräch.» Und worum geht es in diesen Gesprächen? «Um Lösungen …» Will heissen: Eine Zukunft ist bei den ZSC Lions nicht gänzlich ausgeschlossen. Aber bei dem Potenzial an jungen Talenten in der ZSC-Organisation wäre ein neuer Vertrag mehr der Romantik als der sportlichen Realität geschuldet.
Eine Kombination aus sportlicher Realität und Romantik wäre eine Rückkehr zum EHC Kloten. Bis zum Abstieg seiner Heimat und in den drei Jahren vor seinem Wechsel zu den ZSC Lions im Frühjahr 2018 war er – wie einst sein Vater – Captain. Den Abstieg hatte er im Frühjahr 2018 nicht verhindern können. Aus Sicht der Romantiker ist da noch eine Rechnung offen.
Wird Denis Hollenstein im Schluefweg ins Abendrot seiner Karriere reiten? Klotens Sportchef Ricardo Schödler, auch er diplomatisch geeicht, schliesst diesen «Romantik-Transfer» zumindest nicht aus. Es sei ganz einfach so, dass diese Angelegenheit bisher noch kein Thema gewesen sei. Er hatte ja wahrlich in den letzten Wochen sonst viel um die Ohren, nicht zuletzt die Bändigung eines «Schnee-Sturmes». «Aber unsere Strategie als Ausbildungsklub würde nicht grundsätzlich gegen eine Rückkehr von Denis sprechen: Wir brauchen ja auch erfahrene Spieler.» Nun denn: Time will tell.
Da die Partie bereits beim Start zum Schlussdrittel längst entschieden ist (4:1) und die ZSC Lions einen so tipptoppen Eindruck machen und so überzeugend aufspielen, bleibt bei den ZSC Lions Zeit für romantische Gedanken. Es ist nicht mehr erforderlich, auf der Medientribüne das längst in ruhigen Bahnen dahinplätschernde Spiel aufmerksam zu verfolgen. Somit bleibt Zeit für philosophische Überlegungen.
Bei den ZSC Lions ist der Trainer seit dem 30. Dezember ein beliebtes Gesprächsthema. An diesem Tag hat Marco Bayer das Amt von Marc Crawford übernommen. Der Kanadier ist aus gesundheitlichen Gründen in seine Heimat zurückgekehrt.
Ist Marco Bayer ein grosser Trainer? Charismatisch genug, um die ZSC Lions zu führen? Er hat soeben mit den Zürchern die Champions Hockey League gewonnen. Ein grosser Trainer also! Oder doch nicht?
So schwierig der Job auch sein mag – noch nie hatte ein Cheftrainer der ZSC Lions eine so komfortable Ausgangslage. Marco Bayer hat ja seinen Vertrag bereits um zwei Jahre verlängert. Nur der Klub ist nicht definiert: Er kann nach der Saison zum Farmteam, zu den GCK Lions, zurückkehren oder er kann Trainer der ZSC Lions bleiben.
Kein anderer Trainer in der Geschichte der ZSC Lions – auch nicht meisterliche Bandengeneräle wie Kent Ruhnke, Larry Huras, Harold Kreis, Hans Kossmann oder Marc Crawford – hatte die Chance auf «ewigen Ruhm» wie Marco Bayer. Sie alle haben den Klub nach den meisterlichen Triumphen verlassen oder mussten gar gehen. Mit ziemlicher Sicherheit wird auch nie mehr ein ZSC-Trainer eine solche Chance wie Marco Bayer bekommen. Darüber besteht während einer «Philosophen-Runde» auf der Medientribüne Einigkeit.
Wenn nämlich Marco Bayer die Titelverteidigung gelingen sollte – und das erste Viertelfinalspiel gibt noch keinen Anlass, daran zu zweifeln –, dann hat er die Möglichkeit, seinen Ruhm zu verewigen: Er kann nach der Meisterfeier sagen: «Ich habe unserem Klub in einer schwierigen Phase geholfen und meine Pflicht getan. Nun ziehe ich mich wieder auf meinen Posten im Farmteam zurück. Die Arbeit an der Basis, fernab vom Scheinwerferlicht, behagt mir mehr.»
Sein meisterlicher Ruhm wäre nun für die Ewigkeit und keine Niederlage könnte ihn trüben. Marco Bayers Ansehen und fachliche Autorität wären höher als die des meisterlichen Sportchefs Sven Leuenberger. Wann immer die ZSC Lions ein kleineres oder grösseres Problem zu lösen hätten, würde Marco Bayer um Rat gefragt und seine Ansichten wären «Gospel» («Evangelium»). Er käme – wie der Papst seit 1870 in der Katholischen Kirche – in den Genuss des «Unfehlbarkeits-Dogmas»: Er wäre in allen hockeytechnischen Fragen fortan unfehlbar und würde sicherlich auch noch in den Verwaltungsrat des Versicherungskonzerns Swiss Life und als Beisitzer in die Zürcher Stadtregierung berufen. Wir könnten also bei einer Titelverteidigung die Frage stellen: Wird Marco Bayer ZSC-Papst?
Das wäre wahre Hockey-Romantik. Oder würde er dann Trainer der ZSC Lions bleiben und seinen Ruhm aufs Spiel setzen? Schon nach ein paar Niederlagen im nächsten Herbst wäre Marco Bayer wieder ein gewöhnlicher Trainer und womöglich im November ruhmlos zum Bandengeneral beim Farmteam degradiert.
Solche unterhaltsamen Gedankenspiele am Rande eines Playoff-Viertelfinalspiels mögen schon ein wenig frivol sein. Aber sie zeigen immerhin, dass es nach der ersten Viertelfinal-Partie bei den ZSC Lions noch keinerlei Anlass zur Sorge gibt. «Carpe diem» (wörtlich: «Pflücke den Tag») sagte einst der römische Dichter Quintus Horatius Flaccus (Horaz). Es gelte, das Heute zu geniessen und nicht auf den nächsten Tag zu verschieben. Das gilt erst recht für die Playoffs: Betonen denn nicht Präsidenten, Verwaltungsräte, Manager, Trainer, Assistenten und Spieler bei jeder Gelegenheit, man müsse in den Playoffs Shift für Shift, Drittel für Drittel, Spiel für Spiel nehmen? Eben.
Doch hauptsächlich wünsche ich Denis von ganzem Herzen eine möglichst vollständige Genesung. Ob es danach bei meinen Farben oder bei Kloten weitergeht ist völlig zweitrangig.