Spätestens nach der Penalty-Niederlage (0:1) gegen Finnland in Langnau ist es Zeit, Hockey – oder zumindest einen wichtigen Teil unseres Hockeys – neu zu denken.
Die Schweiz ersetzt seit dem Beginn des Ukraine-Krieges Russland in der Euro Hockey Tour. Einer Kombination der vier Turniere, die in Finnland, Schweden, Tschechien und der Schweiz jedes Jahr gespielt werden. Sie beschert unserer Nationalmannschaft zwölf Spiele pro Saison gegen Finnland, Schweden und Tschechien.
Die Teilnahme an der Euro Hockey Tour hat die Kultur der Länderspiele verändert, ja revolutioniert. Bis im Februar 2022 spielte die Schweiz zwischen Oktober und April meistens gegen Lettland, Italien, Deutschland, Österreich, Frankreich, die Slowakei, Norwegen, Weissrussland oder Dänemark. Hin und wieder gelang es, ein Spiel gegen einen der Grossen oder ein B-Team der Grossen zu organisieren.
Die Schweizer waren, um es salopp zu sagen, zwischen Oktober und April die Einäugigen unter den Blinden des internationalen Hockeys. Sie traten als Favoriten an. Niederlagen waren zu kritisieren, zu hinterfragen und allenfalls mit einer Polemik gegen den Nationaltrainer zu verknüpfen. Selbst Misserfolge gegen Deutschland boten Anlass zu sorgenvollen Analysen. Also galt: Wir gewinnen unsere Länderspiele, also sind wir. Und sonst sind wir nicht.
Mit der Aufnahme in die Euro Hockey Tour ist alles anders geworden. Aus der fröhlichen Länderspielfolklore gegen Operetten-Nationalteams ist nun bitterer Ernst geworden: vier Turniere mit 12 Spielen gegen Schweden, Finnland und Tschechien. Jede Partie ein Leistungstest auf hohem Niveau.
Früher waren die Schweizer bei Länderspielen meistens unterfordert. Jetzt sind sie überfordert. Letzte Saison hat die Schweiz nur eine von zwölf Partien der Euro Hockey Tour gewonnen. Diese Saison sieht es ein wenig besser aus: zwei Siege in sieben Spielen.
Das scheint unlogisch zu sein. Spielen wir denn bei der WM gegen die Grossen nicht auf Augenhöhe? Und bei der letzten WM haben wir den Final erreicht! Zum dritten Mal nach 2013 und 2018! Das ist richtig. Aber nur bei der WM können wir mit der bestmöglichen Mannschaft und mit unseren NHL-Titanen antreten. Nur so sind wir konkurrenzfähig. Sonst nicht.
Ein paar Zahlen zeigen, warum wir bei der Euro Hockey Tour überfordert sind. Die Schweiz hat zwar 11'056 aktive Spieler. Das ist im Vergleich mit Tschechien (8718) und Schweden (11'163) also kein Problem. Nur Finnland (25'055) hat ein grösseres Potenzial. Entscheidend ist die Differenz auf einem anderen Gebiet: Schweden zählt 43'759 registrierte Junioren, Finnland 35'457, Tschechien 23'752 und wir «nur» 16'098. Je höher die Anzahl Junioren, je breiter die Basis, desto mehr Spieler sind international konkurrenzfähig. Deshalb stehen in der NHL 92 Schweden, 50 Finnen, 28 Tschechen, aber nur 11 Schweizer unter Vertrag. Logischerweise haben Schweden, Finnland und Tschechien auch mehr Spieler, die nationalmannschaftstauglich sind. Selbst die «zweite Garnitur» der Schweden, Finnen und Tschechen ist besser als die der Schweizer.
Kommt dazu: Nationaltrainer Patrick Fischer hat nie die besten Spieler zur Verfügung. Theoretisch ist die Schweiz verpflichtet, mit dem bestmöglichen Team bei der Euro Hockey Tour anzutreten. Theoretisch muss jeder Klub seine Spieler für die Nationalmannschaft zur Verfügung stellen.
In der Praxis sieht es ganz anders aus. Beim dicht getakteten Spielplan mit den Zusatzbelastungen Spengler Cup und Champions League ist es gar nicht möglich, für jedes Länderspiel die Besten aufzubieten. Es wäre unvernünftig und würde sogar zu einer Verfälschung der Meisterschaft führen. Also muss Patrick Fischer mit den Sportchefs der Klubs Kompromisse aushandeln und die Belastung auf möglichst viele Schultern und Beine verteilen. Er muss Spieler aufbieten, die nur bedingt international tauglich sind. Mehr als die Hälfte der Spieler, die soeben nach Penaltys in Langnau gegen Finnland 0:1 verloren haben, wird für ein WM-Team nie ein Thema sein. Es sind Operetten-Nationalspieler und einige davon spielen nicht einmal bei ihrem Klub eine wichtige Rolle.
Diese fehlende spielerische Qualität zeigt sich am spektakulärsten in der fehlenden offensiven Feuerkraft. Letzte Saison erzielten die Schweden in den 12 Spielen der Euro Hockey Tour 39 Tore, die Finnen 37, die Tschechen 31 und die Schweizer bloss 21. Oder salopp auf den Punkt gebracht: Die Schweiz steht in der Euro Hockey Tour in zu grossen Schuhen.
Die Niederlagenserie bei der Euro Hockey Tour hat Patrick Fischer letzte Saison viel Kritik und Polemik beschert. Aber im Mai hat er die Schweiz in den WM-Final geführt. Das bedeutet: Es ist Zeit, Hockey neu zu denken. Oder zumindest die Euro Hockey Tour. Neu zu denken bedeutet: Gelassenheit in den Niederlagen zwischen Oktober und April. Keine Polemik. Wir haben verloren – na und?
Das steht im Widerspruch zum Leistungssport. Siegen ist auch eine Gewohnheit und Niederlagen dürfen nicht zur Gewohnheit werden. Die Euro Hockey Tour ist die Ausnahme von dieser Regel. Das Verwalten der Niederlagen, ohne an der Leistungskultur Schaden zu nehmen, ist eine heikle Herausforderung. Sie erfordert einen anderen Trainertyp als beim Klub. Keinen taktischen Zuchtmeister. Eher einen Psychologen und Philosophen, der während der Länderspiel-Zusammenzüge und der WM das Gespür hat, um in kürzester Zeit für die richtige Chemie in der Garderobe zu sorgen. Die perfekte Rolle für Patrick Fischer.
Immerhin sind es Niederlagen im Sonntagsgewand: Länderspiele sind intensive Partien auf hohem Niveau. Allerdings taktisch geprägt und deshalb wenig spektakulär und oft langweilig. Sie ermöglichen unserem staatstragenden Fernsehen, das von der Meisterschaft ausgeschlossen ist und nur noch die internationalen Rechte hat (Länderspiele, WM, Spengler Cup), auch während der Saison Hockey live zu senden. Zur Freude der Werbepartner des Verbandes.
Das Spiel gegen Finnland in Langnau war ausverkauft und ein Hockeyfest. Niederlage hin oder her. Das Gotthelf-Land ist eben Hockey Country. Hier lebt Hockey nicht von Siegen allein. So gesehen müsste Langnau eigentlich permanenter Gastgeber der Heimspiele der Euro Hockey Tour sein.
Genau mein Humor