An diesem Transfer war nichts gewöhnlich. Da wäre einerseits die Ablöse in Höhe von 95 Millionen Euro, die schon jetzt eine Rekordsumme für Bayern München ist und noch deutlich steigen kann. Ausserdem schien es lange unwahrscheinlich, dass ein Weltstar dieses Formats noch in die Bundesliga wechseln würde. Und andererseits wäre da die Tatsache, dass Harry Kane Engländer ist.
Nur wenige seiner Landsmänner spielten in der Bundesliga. Klar, es gab Jude Bellingham, Jadon Sancho oder zu Beginn des Jahrtausends Owen Hargreaves. Doch allesamt wechselten als junge Talente nach Dortmund oder München – dass ein etablierter Star aus der Premier League nach Deutschland kommt, gab es zuvor erst einmal. Nämlich als Kevin Keegan 1977 von Liverpool zum Hamburger SV wechselte.
Aufgrund dessen und der kolportierten Ablöseforderungen von weit über 100 Millionen Euro hielt selbst Ehrenpräsident Uli Hoeness den Transfer noch im vergangenen Frühling für «völlig gaga». Doch Kane sehnte sich nach einer Veränderung. Der Mittelstürmer war müde geworden von der erfolglosen Titeljagd mit seinem Jugendklub Tottenham Hotspur, aufgrund welcher der Verein und auch Kane immer wieder verhöhnt worden sind. Deshalb erklärte er sich bereit, nach München zu wechseln – zu einem Klub mit eingebauter Titelgarantie.
Jedoch waren anfänglich nicht nur einige Experten und Fans skeptisch, ob er die hohen Erwartungen erfüllen könnte. Auch Kane selbst gestand kürzlich, dass er sich nicht sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben: «Man weiss nie, wie man reinfindet.» Nach vier Monaten ist die Kritik aber bereits verstummt, jegliche Skepsis verflogen. «So, wie es jetzt läuft, geniesse ich es, ich bin richtig glücklich», so der 30-Jährige.
Alles andere käme auch überraschend. Schliesslich hat er in seinen ersten 20 Spielen im Bayern-Trikot bereits 24 Tore erzielt. Beim wichtigen 3:0-Erfolg gegen Stuttgart am letzten Sonntag wurde er mit seinem Doppelpack einmal mehr zum Matchwinner. Dank seiner 20 Treffer nach 14 Bundesliga-Einsätzen hat er zudem den Rekord von Robert Lewandowski eingestellt.
Drei Partien hat Kane noch, um Lewandowskis Bestmarke von 22 Toren in einer Hinrunde zu übertreffen. Die erste Möglichkeit dazu bietet sich ihm am Mittwochabend in Wolfsburg. Auch deshalb können die Verantwortlichen beim FC Bayern mehr als zufrieden sein. Denn Kane ist der perfekte Nachfolger für den polnischen Goalgetter, nachdem sich Sadio Mané als Missverständnis erwiesen hat.
Die Spielweisen von Kane und Lewandowski ähneln sich, da beide starke Strafraum-Präsenzen sind und als Zielspieler dienen. Ausserdem gehören beide zu den kaltschnäuzigsten Spielern vor dem Tor. Doch scheint der Rekordtorschütze von Englands Nationalteam in gewissen Aspekten noch besser zum Münchner Spiel zu passen als sein Vor-Vorgänger. So läuft Kane mehr und ist stärker ins Passspiel eingebunden. Schon jetzt hat er acht Assists auf dem Konto. Auffällig ist auch, wie der Neuner in der Defensive mithilft und auch mal Gegenangriffe einleitet.
Davon, dass er sich auch zurückfallen lässt und im Mittelfeld agiert, profitieren Mitspieler wie Leroy Sané, der derzeit eine der besten Saisons seiner Karriere spielt. Sané und Kane erinnern schon jetzt an das kongeniale Tottenham-Duo, welches der Stürmer mit Heung-min Son gebildet hat. Sané bereitete fünf von Kanes Treffern vor, umgekehrt war Kane viermal Passgeber vor den erfolgreichen Abschlüssen des deutschen Nationalspielers. «Wir haben eine wirklich gute Verbindung aufgebaut und wir passen einfach sehr gut zusammen», sagte Kane nach dem Sieg gegen Stuttgart.
Ohnehin kommt Kane in der Kabine hervorragend an. «Er ist ein Phänomen», sagte Goalie Manuel Neuer vor kurzem und ergänzte: «Im gegnerischen Strafraum ist er fantastisch, rechts, links, mit dem Kopf. Aber auch, wie er nach hinten arbeitet, die Bälle festmacht und seinen Körper einsetzt.» Gemäss The Athletic würden seine Mitspieler Kane auch als Leader bewundern, weil er «ein unerschütterliches Selbstbewusstsein mit ehrlicher Bescheidenheit kombiniert».
Aufgrund seiner fehlenden Allüren ist er zudem schon ein Liebling der Fans, deren Foto- oder Autogrammwünsche er stets erfüllt. Dies hängt wohl auch daran, dass er sich selbst immer noch «wie ein kickender Fan» fühle, wie er gegenüber der Vereins-Homepage verriet. Spätestens mit seinem Auftritt beim Oktoberfest, als er standesgemäss mit Mass und Breze posierte und sich vornahm, «so viel wie möglich von dem Fest aufzusaugen», wurde auch dem letzten Kritiker klar, dass Kane perfekt nach Bayern passt.
Sowieso kommt Kane in München immer besser an. Wohnte er lange in einem Nobelhotel in der Innenstadt, soll er noch vor Weihnachten in eine Villa in einem Vorort ziehen. Dann werden auch seine Frau und seine vier Kinder permanent bei ihm sein – bisher besuchten sie ihn lediglich rund einmal im Monat. Dies könnte Kane einen weiteren Leistungsboost geben, wie Tuchel berichtet. «Er ist ein echter Familienmensch, man merkt den Unterschied, wenn sie da sind», sagte der 50-jährige Trainer, der Kane als einen von wenigen Spielern in Taktik-Diskussionen miteinbezieht.
Obwohl sich Kane immer wohler fühlt, verfolgt ihn ein Problem aus der Heimat. Denn trotz seiner grandiosen Leistungen ist ein Titel bei den Münchnern in dieser Saison keineswegs garantiert. In der Bundesliga liegen die Bayern nach 15 Spieltagen mit einer Partie weniger vier Punkte hinter Leverkusen, in der Champions League beginnt die entscheidende Phase erst noch und im DFB-Pokal ist der Rekordsieger ohne Kane in Saarbrücken ausgeschieden.
Um den Titelfluch abzulegen, sollte Kane weiterhin so beständig Tore erzielen und vorbereiten wie bisher. Dann könnte er am Ende nicht nur einen weiteren Lewandowski-Rekord knacken – 41 Tore in einer Bundesliga-Saison – sondern vor allem endlich zum ersten Mal in seiner Karriere eine Trophäe in die Höhe recken.
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