Spätestens seit dem Zürcher Derby im Jahr 2021, als aus der FCZ-Fankurve brennende Fackeln in den GC-Sektor flogen, scheint man sich einig zu sein: In Sachen Fangewalt im Umfeld von Fussballspielen besteht in der Schweiz Handlungsbedarf. Nur über das «Wie» ist man sich nach wie vor uneinig.
Dabei hatte die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) vor 12 Jahren ein Instrument verabschiedet, von dem man sich viel versprochen hatte. Das revidierte Hooligan-Konkordat sollte die Fangewalt reduzieren und damit einhergehend weniger Polizeieinsätze sowie tiefere Kosten für die Steuerzahler zur Folge haben. «Wir wollen gewaltbereite Matchbesucher daran hindern, ihr Unwesen zu treiben», fasste Hans-Jürg Käser, damals ein Mitglied der KKJPD, den Zweck dieses Konkordats zusammen.
Eine von der KKJPD in Auftrag gegebene Evaluation, die von der Universität Bern im letzten Herbst veröffentlicht wurde, zeigt deutlich: Das Konkordat hat nicht gehalten, was es versprochen hat. «Beim Betrachten der analysierten Ereignisdaten kann festgehalten werden, dass die Anzahl Fussballspiele mit gewaltsamen Ereignissen im Betrachtungszeitraum relativ stabil war», resümieren die Autoren der Evaluation. Kurz gesagt: Es hat sich nicht viel verändert.
Im vergangenen Herbst ging schliesslich eine weitere Meldung zu einem Vorfall im Umfeld eines Fussballspiels durch die Medien. Nach dem Spiel zwischen GC und YB beschädigten Berner Fans einen Bus der ZVV und bedrohten den Fahrer. Auch bei einem Spiel zwischen dem FC Basel und dem FC Zürich kam es jüngst zu Ausschreitungen und am vergangenen Samstag sorgten die Fans vom FCZ und GC für Negativschlagzeilen.
Fangewalt ist auf dem Vormarsch, könnte man angesichts dieser Meldungen meinen. Glaubt man Alain Brechbühl, Leiter der Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen der Uni Bern, entspricht dieser Eindruck aber nicht der Realität. Gegenüber Blick erklärte der Forscher, dass sogar ein gegenteiliger Trend erkennbar sei. 2023 gab es rund um Super-League-Spiele so wenige schwere gewaltsame Auseinandersetzungen wie noch nie. Die entsprechenden Daten werden seit 2018 erhoben.
Trotz dieses Trends kündigten Städte und Kantone im Zusammenhang mit Gewalt an Fussballspielen eine härtere Gangart an und wollen dem Problem mit dem neu erarbeiteten Kaskadenmodell einen Riegel schieben.
Schon jetzt macht sich diese härtere Gangart bemerkbar – beim Rückrundenstart zwischen YB und GC blieb die Ostkurve auf Anordnung der Behörden leer. Die Sperrung des Sektors war eine Reaktion auf den oben erwähnten Vorfall in einem Zürcher Bus. Auch beim FC Zürich bleibt die Südkurve infolge der Ausschreitungen nach dem Spiel gegen den FC Basel für die kommenden zwei Heimspiele geschlossen.
Lukas Meier von der Fanarbeit Bern sieht die Sektoreinschliessung kritisch. Nicht nur der fehlende kausale Zusammenhang zwischen dem Vorfall in Winterthur und dem Spiel gegen GC, sondern auch der finanzielle Aspekt ist laut Meier problematisch.
Dass laut dem Kaskadenmodell je nach Schwere der Verstösse gar ganze Stadien für Fans geschlossen werden sollen, kritisiert der Berner: «Dass man heute immer noch ernsthaft über Geisterspiele diskutiert, verstehe ich nicht. Dem Klub gehen so Millionen durch die Lappen. Und das Geld fehlt dann auch für Präventionsprojekte», erklärt Meier.
YB ist einer von nur sechs Vereinen in der Super League, welche in die Fanarbeit investieren. Die drei Mitarbeitenden der unabhängigen Stelle in Bern, die von der Stadt, vom Kanton und vom Klub finanziert wird, fungieren gewissermassen als Bindeglied im Dialog zwischen den Fans und den Behörden. Und ganz im Gegensatz zum Kaskadenmodell setzt die Fanarbeit auf Prävention statt Repression.
Die Fanarbeit in der Schweiz steckt, verglichen mit anderen Ländern wie Deutschland oder England, noch in den Kinderschuhen. Als ab den 90ern immer mehr junge Menschen in die Kurven kamen, sei klar geworden, dass man sich um diese Personen kümmern müsse, so Meier. «Im Zuge der Euro 2008 in der Schweiz und Österreich gab es eine Anschubfinanzierung für die Präventionsarbeit. Das ist einer der nachhaltigsten Effekte dieses Turniers.»
Die Fanarbeit Bern beschäftigt sich mit den verschiedenen Thematiken, die im Zusammenhang mit den Fangruppen auftreten. Da wäre zum Beispiel das präventive Projekt «Ragazzi», das Fans zwischen 10 und 17 Jahren ermöglicht, ohne Eltern mit an die Auswärtsspiele zu reisen. Auch in der Organisation der Extrazüge ist die Fanarbeit Bern involviert. «Diese Projekte haben auch einen sozial-integrativen Charakter. So helfen beispielsweise junge Ultras bei der Grobreinigung der Extrazüge», erklärt Meier. Die Fanarbeit Bern bietet den Fans auch juristische Unterstützung und beschäftigt sich mit dem Thema Sucht, das in Fankurven ebenfalls präsent ist.
Das oberste Ziel der Fanarbeit, so Meier, sei die Gewaltprävention. Nachhaltiger als Sanktionen sei dabei aber der Dialog. Den Dialog zwischen den verschiedenen Akteuren zu fördern, ist auch das Ziel des Projekts «Chance», das vom FC Luzern in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern entwickelt und in Bern übernommen wurde. Die Initiative ermöglicht es Personen – insbesondere Jugendlichen –, die von einem Stadionverbot betroffen sind, sich mit Stadionbesuchen auf «Bewährung» an Heimspielen wieder in den Fan-Alltag zu integrieren. Die Betroffenen werden auch zu Gesprächen mit dem Klub – beispielsweise dem Sicherheitschef – begleitet. Dieser Austausch sei wichtig für das gegenseitige Verständnis, so Meier.
Meier betont die sozialen Auswirkungen eines Stadionverbots: «Für Jugendliche ist die Zugehörigkeit zu einer Gruppe enorm wichtig. Und ob es sinnvoll ist, wenn sie einfach ausgeschlossen werden, ist aus Sicht der Fanarbeit natürlich mehr als fraglich.»
Was sich nach einem innovativen Ansatz anhört, funktioniert in der Realität nicht mehr wie gewünscht. Fans, die beispielsweise aufgrund des Gebrauchs von Pyrotechnik ausgeschlossen werden, sehen sich nämlich mit einer Dreifachbestrafung konfrontiert. Die Konsequenzen sind einerseits strafrechtlich, aber aufgrund des Hooligan-Konkordats und der Massnahmen, die der jeweilige Klub trifft, auch verwaltungs- und privatrechtlich relevant. Damit verbunden ist auch ein Rayonverbot. Dürfen sich Fans dem Stadion nicht mehr nähern, verunmöglicht dies auch den Dialog mit den Klubverantwortlichen, der das Projekt «Chance» ausmacht.
«Mit diesem Rayonverbot wurde die Reintegrationsmassnahme ausgehebelt», erklärt Meier. In St. Gallen und Luzern konnte mit der Polizei eine Ausnahmeregelung erzielt werden, damit der Dialog trotzdem stattfinden kann. In Bern sträuben sich die Gesetzeshüter gegen eine solche Abmachung. «Das ist keine rechtliche Problematik, sondern eine politische Entscheidung der Berner Polizei», sagt Meier.
Auch den Umgang mit Pyrotechnik müsse man überdenken, sagt der gelernte Historiker: «Für die Ultras ist diese nicht verhandelbar, sie ist ein integraler Bestandteil der Fankultur.» Meier zieht dabei Parallelen zur Diskussion über die Cannabis-Legalisierung: «Da muss man eine Lösung finden, weil so bringt es nichts. Es ist einfach eine Realität.» Bis sich diesbezüglich etwas ändert, bleibt der Fanarbeit also nichts anderes übrig, als den Jugendlichen klarzumachen, wie schwerwiegend die Konsequenzen bei einem Verstoss sind.
In der Zusammenarbeit zwischen der Polizei und der Fanarbeit laufe in Bern aber auch vieles gut, relativiert Meier. «Die Berner Polizei versucht in diesem Dialog eine Vorreiterrolle einzunehmen und hat ein Team gegründet, das nicht die Fahndung, sondern den Dialog ins Zentrum stellt». Seit der Pandemie habe sich der Wind aber gedreht, stellt Meier fest.
«Fankurven sind instabile, volatile Gefüge. Nach der Pandemie waren die Leute übermütig, man kannte die Regeln nicht mehr und wollte wieder mal auf den Putz hauen. Die Selbstregulierung hat da einen Moment nicht mehr gegriffen», führt er aus. Dies wiederum habe dazu geführt, dass die Repressionsschraube angezogen und der Dialog vernachlässigt worden sei.
Bei der Erarbeitung des Kaskadenmodells, so Meier, sei die Fanarbeit zwar dazugeholt worden, aber erst dann, als es um die Erarbeitung des Strafenkatalogs ging. «Da wollten wir nicht mitmachen», war für Meier klar: «Schon das Hooligan-Konkordat hatte einen penalen Charakter, dabei müssten präventive Massnahmen im Vordergrund stehen.»
Dass die Liga seit 2019 keinen Fanverantwortlichen mehr habe, mache die Arbeit der lokalen Stellen nicht einfacher und solange der Dialog zwischen Behörden, Klubs und Fans nicht funktioniere, seien auch Lösungen in weiter Ferne, resümiert Meier die aktuelle Situation, die er als «unhaltbar» bezeichnet.
Als Fangruppierungen verschiedener Super-League-Klubs vor zwei Wochen angekündigt hatten, sich aus Protest gegen die im Kaskadenmodell vorgesehenen Kollektivstrafen in Bern zu versammeln, ging ein Ruck durch die Schweizer Fussballwelt.
Zwar wurde der Aufmarsch schlussendlich abgeblasen – laut Meier wohl auch, weil «der Leidensdruck und das Risiko für die Fans in keinem Verhältnis standen» –, die Diskussion über Kollektivbestrafung als Mittel zur Gewaltbekämpfung bleibt aber aktuell. Der Forscher Alain Brechbühl meinte gegenüber SRF, dass die Forschung zeige, «dass gerade mit kollektiven Massnahmen eine kollektive Dynamik erst in Gang gesetzt werde».
Auch Super-League-CEO Claudius Schäfer sieht diese Art der Bestrafung kritisch: «Für uns steht die Einzeltäterverfolgung im Vordergrund. Wer eine Gewalttat begeht, soll bestraft werden. Kollektivstrafen sind dagegen auch immer ein Ohnmachtszeugnis.»
Der Fussball in der Schweiz lebt von den Fans, die jedes Wochenende an die Spiele pilgern. Doch die Beziehung zwischen Behörden, Fanszene und Klubs scheint fragiler denn je. «Die Fans haben keine Lobby», meint Lukas Meier zu der verfahrenen Situation. «In der Fanarbeit brauchen wir mehr Ressourcen, wir sind am Anschlag.» Vor der Pandemie habe man mit runden Tischen, an denen sich die verschiedenen Akteure austauschten, bereits viel erreicht, meint Meier und fügt an: «Aber das geht gewissen Hardlinern zu langsam. Und beim kleinsten Vorfall reagieren sie mit Repression. Dabei müssten wir einfach wieder anfangen, miteinander zu sprechen.»
Wenn der Fussball es selber nicht fertigbringt, dass seine Fans wie in anderen Sportarten üblich, anständig sind, soll er eben Geld verlieren.
Fussball ist nicht Gott und seine Fans nicht bevorzugte Menschen, somit sollen sie für Ordnung schauen.
Wenn das nicht klappt, Fankurven schliessen, Geisterspiele und/oder volle Kosten den Vereinen aufbürden.