Es ist nicht lange her, da schien Virgil van Dijk den berühmten Zenit überschritten zu haben. Dem einstigen Fels in der Brandung unterliefen ungewohnte Fehler, sein Zweikampfverhalten war nicht mehr ganz auf der Höhe und der 1,93-m-Brocken schüchterte kaum noch einen Gegenspieler ein. Aus diesem Grund wurde der Innenverteidiger als Mitschuldiger für die Liverpool-Krise während der letzten Saison benannt.
Doch der 32-Jährige hat sich eindrücklich zurückgekämpft. Spätestens nach seinem Auftritt gegen Manchester City am Sonntag muss man van Dijk wieder zu den besten Verteidigern der Welt zählen. Beim 1:1 gegen den grossen Konkurrenten überragte der Niederländer wieder wie zu seinen besten Zeiten, als kaum jemand mit dem Ball an ihm vorbeikam und er bei der Wahl zum Weltfussballer gar einmal Zweiter wurde.
Van Dijk gewann gegen die Skyblues gemäss Squawka jedes seiner Kopfballduelle, brachte 77 seiner 79 Pässe (97,5 Prozent) an den Mitspieler und eroberte den Ball fünfmal. Zweimal klärte er ausserdem als letzter Mann vor Liverpool-Goalie Caoimhin Kelleher. Unter anderem bewies er sich im 1-gegen-1 gegen Erling Haaland, der aus der eigenen Hälfte alleine in Richtung des gegnerischen Tors gestartet war. Van Dijk drängte ihn ab und liess nur ein harmloses Schüsschen genau auf Liverpools Schlussmann zu. Es war der einzige Abschluss des womöglich besten Stürmers der Welt, der ansonsten über vier Schüsse pro Spiel abgibt.
Dass Haaland so harmlos blieb, ist vor allem das Verdienst der Nummer 4 der «Reds», weshalb diese von Sky-Experte Jamie Carragher nach dem Spiel ein Sonderlob bekam. In den Augen der Liverpool-Legende war der Innenverteidiger anders als für die Fans, die Alexis Mac Allister zum «Man Of The Match» votierten, der beste Spieler auf dem Platz. Weil er den Norweger in Zaum gehalten hat. «In meinen Augen ist Haaland der beste Mittelstürmer der Welt und van Dijk ist einer der besten Innenverteidiger. Und ich glaube, dass van Dijk ein besserer Innenverteidiger ist als Haaland ein Stürmer», so – der möglicherweise etwas befangene – Carragher, der anfügte: «Denn, wenn man sich das heutige Duell anschaut, hat sich van Dijk durchgesetzt.»
Und es war nicht alleine Haaland, der die in den Worten Jürgen Klopps «unfassbare Form» van Dijks zu spüren bekam. Auch Phil Foden wurde von dem 64-fachen Nationalspieler zweimal auf überragende Weise gestoppt.
— . (@RatioFT77) March 10, 2024
Was Carragher zusätzlich beeindruckte, war, wie der Captain seine jungen Nebenmänner angeführt hat. Weil Ibrahima Konaté nach wie vor verletzt fehlte, stand der 21-jährige Jarell Quansah gemeinsam mit van Dijk in der Innenverteidigung. Auf der rechten Seite der Viererkette lief der ebenso wenig erfahrene 20-jährige Conor Bradley auf, während der gelernte Innenverteidiger Joe Gomez den Linksverteidiger mimte. Trotz der ungewöhnlichen Konstellation zeigte die Defensive eine starke Leistung. Den Grund dafür sieht Carragher bei van Dijk: «Die besten Innenverteidiger spielen nicht nur ihr eigenes Spiel, sie kontrollieren die gesamte Viererkette.»
Van Dijk erklärte nach dem Spiel, dass er mit Quansah vor der Partie etwas mehr gesprochen habe als sonst und ihn während der Partie versucht habe, zu beruhigen, weil er zuvor noch nie ein solch wichtiges Spiel absolviert hat. Jedoch sei es nichts Besonderes für ihn: «Ich versuche immer, diese Verantwortung zu übernehmen. Das tue ich seit meiner Ankunft in Liverpool im Januar 2018.» Ausserdem müsse man auch den jungen Spielern die Freiheit lassen, ihre Qualität, die bei beiden zur Genüge vorhanden sei, auszuspielen.
Obwohl van Dijk in seinem 94. Heimspiel mit Liverpool zum 93. Mal ungeschlagen geblieben ist, zeigte sich der 32-Jährige nicht ganz zufrieden mit dem Spiel: «Es ist ein bittersüsses Gefühl. Ich will immer gewinnen, vor allem zu Hause und weil wir die Chancen dazu gehabt haben. Natürlich hatten auch sie Chancen, das können wir nicht verneinen, sie sind der Triple-Sieger und ein gutes Team. Aber ich bin ein bisschen enttäuscht.»
Auch die umstrittene Situation im Strafraum von Manchester City kurz vor Schluss dürfte bei ihm wie bei Trainer Jürgen Klopp für Ärger gesorgt haben. Zumal Liverpool durch das Unentschieden die Spitzenposition in der Premier League an Arsenal verloren hat. Zehn Runden vor Schluss sind die Gunners aufgrund des besseren Torverhältnisses vor den punktgleichen Reds und einen Punkt vor ManCity auf Platz 1. Es deutet alles auf einen spannenden Dreikampf bis zum Schluss hin.
Und bei der mit 26 Gegentoren zweitbesten Defensive der Liga liegt die Hoffnung auch auf Virgil van Dijk, der vor einem Jahr von einigen noch als «washed» bezeichnet wurde. Damit werden auf Englisch Sportler geschmäht, die nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst sind. Das kann man von dem Verteidiger aber nicht behaupten. Um im Bild des verwaschenen Sportlers zu bleiben, ist er sozusagen aus dem Trockner gestiegen, um in Klopps letzter Saison an der Anfield Road noch einmal alles für einen gelungenen Abschied des deutschen Trainers zu geben.