Es läuft bereits die 64. Minute im Spiel zwischen Stuttgart und Wolfsburg, die Gastgeber liegen 0:1 hinten. Serhou Guirassy hat nun seit über 150 Minuten nicht mehr getroffen. Irgendwann musste diese wahnsinnige Serie ja enden, wird sich ein Grossteil der 52'000 anwesenden Fans gedacht haben.
Wenig später fällt Guirassy im Strafraum nach einem Foul von Cédric Zesiger. Den fälligen Penalty verwandelt der Gefoulte gleich selbst – und eine Viertelstunde später hat Guirassy zwei weitere Tore erzielt, Stuttgart siegt 3:1. Nach sieben Spielen stehen die Schwaben auf dem 2. Platz der Bundesliga, ihre Nummer 9 hat bereits 13 Treffer auf dem Konto. Zum Vergleich: In der letzten Saison holten sich Niclas Füllkrug und Christopher Nkunku mit je 16 Toren die Torjägerkanone.
Wie verrückt diese Zahlen sind, zeigt ein Blick in die Statistik. Noch nie traf ein Spieler in der Bundesliga so früh in der Saison so häufig – auch nicht Gerd Müller und Robert Lewandowski. Schon jetzt hat Guirassy die meisten Hinrunden-Tore eines Stuttgarters erzielt, dabei sind bis zur Winterpause noch zehn Spiele zu absolvieren. Zudem erzielte er alleine mehr Tore als elf Bundesligisten als Team. Und auch sonst kann in den europäischen Top-Ligen niemand mit dem Stuttgarter Goalgetter mithalten.
Atemberaubend ist auch die Effizienz des nur so vor Selbstbewusstsein strotzenden Stürmers. Guirassys erste acht Torschüsse der Saison zappelten allesamt im Netz, mittlerweile ist seine Erfolgsquote bei 16 Schüssen aufs Tor immer noch bei über 80 Prozent. «Er ist der grosse Kopf des Erfolgs», lobt ihn sein Trainer Sebastian Hoeness.
Vor einigen Jahren hätte das Guirassy kaum jemand zugetraut. Im Sommer 2016 wechselte der heute 27-Jährige als vielversprechender Offensivspieler nach Köln, wo er sich jedoch nie durchsetzen konnte und auch aufgrund von Verletzungen nicht wirklich glücklich wurde. Aus den zweieinhalb Jahren beim «Effzeh» bleibt vor allem eine Szene in Erinnerung: Bei einem 0:0 gegen Bremen vergibt Guirassy aus wenigen Metern vor dem leer stehenden Tor, was ihm in Köln das Prädikat «Chancentod» einbringt.
Heute sagt er über seinen ersten Anlauf in der Bundesliga: «Mal hast du eine gute Zeit, mal eine weniger gute. C'est la vie.» Über eine andere Episode aus seiner Kölner Zeit kann er nur lachen, wie er den «Stuttgarter Nachrichten» verrät. Auf den Autogramm-Karten wurde sein Name nämlich falsch geschrieben – Sehrou statt Serhou –, doch das sei schon oft passiert, sagt Guirassy: «Ich hoffe, das kommt künftig seltener vor.»
Nach 37 Spielen im Kölner Trikot in der 1. und 2. Bundesliga mit nur sechs Toren zog es ihn zurück nach Frankreich. Dort wurde er knapp 23 Jahre zuvor in Arles geboren und wuchs dann in Montargis, gut 100 Kilometer südlich von Paris, mit drei Brüdern und vier Schwestern als Sohn guineischer Eltern auf. In Frankreich machte er auch seine ersten Schritte im Fussball, wobei es erst Liebe auf den zweiten Blick war.
«Es hat mir überhaupt keinen Spass gemacht. Ich weiss nicht mehr genau, warum, aber ich mochte Fussball einfach nicht», erzählt Guirassy. Ein Jahr später, im Alter von sechs oder sieben Jahren, habe sein Bruder ihn aber aufs Neue motiviert, woraufhin er dann bei dem Sport geblieben sei. Später durchlief er die französischen Junioren-Nationalteams, entschied sich dann aber zu einem Verbandswechsel. Seit März 2022 läuft er für Guineas A-Nationalteam auf. «Letztlich waren es keine sportlichen Gründe, die den Ausschlag für meinen Verbandswechsel gaben. Es war eine emotionale Entscheidung», sagt Guirassy dazu.
Nach seinem Weggang von Köln fand er bei Amiens zu seiner Torgefahr zurück, konnte in der zweiten Saison trotz seiner neun Treffer aber den Abstieg nicht verhindern, weshalb er zu Stade Rennes weiterzog. Doch auch dort musste sich der Familienmensch gegen Widrigkeiten durchsetzen. Nach einer guten Saison mit zehn Toren in 27 Spielen wurde ihm ein neuer Stürmer vor die Nase gesetzt. Als Reservist glänzte Guirassy mit neun Toren in knapp 1000 Minuten Einsatzzeit – schon damals wies er also eine starke Quote auf.
Kurz vor Ende des Transferfensters wechselte er im September 2022 auf Leihbasis zum VfB Stuttgart, wo er mit elf Toren in verletzungsbedingt nur 22 Einsätzen eine neue persönliche Bestmarke für eine Saison aufstellte – die er wenige Monate später bereits übertroffen hat. Selbstverständlich zog der Klub, der sich erst in der Relegation auch dank eines Tores von Guirassy vor dem Abstieg retten konnte, die Kaufoption in der Höhe von neun Millionen Euro.
Trotz Interesses aus der Premier League entschied sich Guirassy, in Stuttgart zu bleiben. «Wir haben ein gutes Team, einen guten Trainer und unglaubliche Fans», erklärt er seinen Entscheid in der «Bild» und ergänzt: «Dazu fühlen wir uns als Familie in Stuttgart sehr wohl.» Mit seinen beiden Töchtern und seinem Sohn geniesse er die Zeit in den Parks oder beim Fussballspielen. «Ich bin ein ganz normaler Typ, den man überall antreffen kann.»
Wie der Privatmensch Guirassy ist auch der Fussballer eher zurückhaltend und bescheiden. «Ich bin nur wegen des Teams so gut, also bin ich dankbar», erklärt er sein Erfolgsgeheimnis. Der 1,87-Meter-Mann besitzt zwar die für einen klassischen Strafraumstürmer typischen Abschlussqualitäten und Kopfballstärke, glänzt aber auch mit Spielintelligenz und Vielseitigkeit vor dem Tor. Zudem arbeitet er unermüdlich für die Mannschaft. Diese Bodenständigkeit ist mit ein Grund, weshalb Guirassy bei seinen Mitspielern auf und neben dem Platz so beliebt ist.
«Es gibt keinerlei Gefahr oder Sorge, dass er abhebt oder Allüren bekommt», bestätigt Trainer Hoeness. Dies liegt auch daran, dass Guirassy genau weiss, wie schnell es im Leben gehen kann: «An einem Tag bist du ganz oben, dann hast du wieder einen schlechten Tag.» Und so rechnet er auch damit, dass er die aktuelle Welle nicht langfristig reiten kann: «Auch wenn ich alles versuchen werde: Ewig kann es mit dieser Quote nicht weitergehen.»
In Stuttgart hoffen sie aber darauf, dass Serhou Guirassy seine Tore – wenn auch in geringerer Frequenz – noch möglichst lange für den VfB erzielt. Die nächste Möglichkeit, seine herausragende Bilanz auszubauen, bietet sich heute Nachmittag gegen Union Berlin. Doch schon jetzt stehen die Topklubs nach seiner Leistungsexplosion Schlange. Über Interesse aus Spanien, England und Italien wurde bereits berichtet, im nächsten Sommer besitzt Guirassy eine Ausstiegsklausel in Höhe von 20 Millionen Euro – das entspricht der Hälfte seines Marktwerts. Wollen die Stuttgarter eine höhere Ablöse kassieren, müssen sie ihn bereits im Winter verkaufen.
Doch aktuell ist Guirassy zufrieden, wo er ist: «Ich spiele in einer der europäischen Top-5-Ligen, bei einem tollen Verein, wo ich gesetzt bin – was will man mehr?» Er gibt zwar zu, dass auch er das Ziel im Hinterkopf habe, bei einem grossen und erfolgreichen Klub zu spielen, doch will er sich vor allem darauf konzentrieren, mit Stuttgart eine gute Saison zu spielen. Für den Rest habe er seine Berater. Ein Versprechen wolle er nicht geben, wohl wissend, wie schnell sich Dinge verändern können, doch er sagt klar: «Mein Ziel ist es derzeit, die Saison mit dem VfB zu beenden.»
Zurück in Frankreich wurde er geboren 😅
Made my day 😊