Als ich sie das erste Mal im Schweizer Trikot spielen sehe, denke ich: So viel Brillanz in der Nati habe ich noch nie gesehen. Diese Ballbehandlung, diese Beschleunigung, diese Technik, dieser Spielwitz, dieses Gefühl für den Raum, dieses Spielverständnis. Alles vom Feinsten. Doch im Auftaktspiel gegen Norwegen sitzt das grösste Juwel, das der Schweizer Frauenfussball je hatte, nur auf der Bank. Auch, weil Sydney Schertenleib verspätet ins EM-Camp eingerückt ist.
17 war sie erst, als Sydney Schertenleib vor rund einem Jahr von GC zum Weltklub FC Barcelona wechselte. Monate später wird sie für den Golden Girl Award der besten U21-Spielerin Europas nominiert. Und nach ihrem Profi-Debüt im November überschlagen sich die spanischen Medien immer wieder in Lobeshymnen. «Es ist schwer, sich an einen so starken Durchbruch im ersten Frauen-Team von Barça zu erinnern.» Oder: «Angesichts ihres Potenzials gibt es keinen Zweifel daran, dass das, was sie Barça bringen kann, unermesslich ist.»
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Sydney Schertenleib restores Barcelona's 3-goal lead in Germany with a beauty!
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Sie selbst sagt: «Ich will eines Tages den Ballon d’Or gewinnen.» Und es gibt nicht wenige, die ihr das auch wirklich zutrauen. Doch wer ist die 18-jährige Frau, die in Richterswil aufgewachsen ist, eine amerikanische Mutter hat und nun die grosse EM-Hoffnung der Schweiz ist? Ihre Schwester, eine frühere WG-Partnerin und zwei Trainer bringen uns das Wunderkind näher.
«Obwohl ich älter bin, hat Sydney kurz vor mir mit Fussballspielen begonnen. Es hat uns jedenfalls gutgetan, dass wir beide Fussball spielten. Der Sport hat uns verbunden, wir haben viel seltener gestritten.
Wir waren beide gut, aber Sydney war von Beginn an talentierter als ich. Als ich beim FC Zürich in die U21 kam, war sie schon in der ersten Mannschaft. Nach aussen gab sie mir nie das Gefühl, ich würde in ihrem Schatten stehen.
Anders sah es aus, wenn wir unter uns waren. Aber das war halt so ein typisches Schwester-Ding. Hast du keine Kollegin, die gerade Zeit hat, unternimmst du was mit deiner Schwester. Als ich 14 oder 15 war, behauptete sie jeweils, sie sei besser im Fussball als ich. Dabei wollte sie mich provozieren, herausfordern. Denn sie musste sich ständig mit mir messen. Dribbeln, jonglieren, schiessen, Eins gegen Eins, sie wollte immer diese Battles. Und Sydney will immer gewinnen. Wenn sie mal verloren hatte, konnte sie nicht aufhören, bis sie den Sieg in der Tasche hatte.
In der Schule war sie nicht so ehrgeizig wie im Fussball. Aber sie war trotzdem immer gut genug, dass man ihr den Fussball nicht wegnehmen musste.
Einmal hat sie sich zu Hause selber die Haare ganz kurz geschnitten. Sie wollte häufig Bubenkleider anziehen. Und wenn sie nicht mit mir gespielt hat, dann vor allem mit Buben. Auch waren ihre Idole Männer: Ronaldo, Neymar, Messi. Als sie 13 oder 14 wurde, entdeckte sie das Klavierspielen. Das ist ihr unterdessen sehr wichtig. Als sie in Barcelona eine Wohnung bezog, war etwas vom Ersten, was sie kaufte, ein elektronisches Klavier.
Da sie schon mit 16, als sie zu GC kam, zu Hause ausgezogen war, machte ich mir wegen der praktischen Dinge keine grossen Sorgen um sie, als sie letzten Sommer nach Barcelona zog. Aber eine andere Geschichte ist das Mentale. Sydney kam nie auf mich zu und sagte, es ginge ihr schlecht. Deshalb befürchtete ich, sie würde es auch nicht tun, wenn sie in Barcelona Probleme hätte. Da sie aber ein absolutes Papi-Kind ist, reiste er in der ersten Phase immer wieder mal nach Barcelona. Heute sagt sie: Mir geht’s super.
Die Pubertät hat Sydney sehr gut überstanden. Sie war vielleicht ein-, zweimal im Ausgang. Aber das ist nicht ihr Ding. Sie hat auch noch nie Alkohol getrunken. Letztes Jahr hatte sie ihren ersten Freund. Aber das hat sie nicht von ihrem Weg abgebracht. Es gibt für sie nichts Wichtigeres als den Fussball und die Familie.
Ich bin ganz anders. Der Fussball hatte bei mir nie diese Wichtigkeit. Ich erinnere mich, dass Sydney lange mit einem Fussball im Bett geschlafen hat. Sie hatte auch nicht viele Freundinnen, weil neben Schule, Fussball und später auch Klavier kaum noch Zeit für anderes geblieben ist. Das ist voll okay. Denn sie lebt ihren Traum.»
«Sydney kam in der U9 zu uns zum FCZ. Mein erster Eindruck war: was für ein Mädchen, dynamisch, schnell, technisch gut, trickreich. Aber da war auch ein sensibler Kern. Sie brauchte viel Zuspruch. Sie war für ihr Alter erstaunlich reflektiert und selbstkritisch. Sie hatte dieses Mindset: Ich will alles erreichen. Aber sie fragte auch: ‹Kann ich alles erreichen?›
Eine Anekdote zeigt sehr gut auf, wie sie damals tickte. Wir waren bei einem Hallenturnier, dem Gegner massiv überlegen, führten 5:0. Da entschied ich, dass wir unser Team um einen Spieler reduzieren. Doch Sydney verstand es nicht. Sie schaute mich mit fragendem Blick an. Ich bat sie an den Spielfeldrand, um es ihr zu erklären. Sie sagte, sie könne jetzt nicht kommen, weil wir eh schon in Unterzahl wären. Ich bestand aber darauf. Wir kassierten ein Tor, und sie sagte: ‹Siehst du, das kommt dabei raus.›
Beim FCZ verfolgten wir die Philosophie, dass die besten Mädchen bis zur U11 mit den Buben zusammenspielen. Sydney war, soweit ich mich erinnere, sogar bis zur U15 mit den Buben im selben Team. Bei ihr waren Defizite punkto Kraft oder Schnelligkeit nie ein Thema. Man hat keinen Unterschied zu den Buben gesehen.
Es war aber nie so krass, dass Sydney eine One-Woman-Show abgezogen hätte. Ihr war zwar bewusst, dass sie ausserordentliches Talent hat. Aber sie verhielt sich stets achtsam und sozial. Nie hat sie sich in den Vordergrund gedrängt. Sie war nachdenklich, manchmal sogar unsicher. Nicht annähernd habe ich sie je als arrogant empfunden. Stattdessen meist sehr herzlich, viel Lachen, viel Gefühl.»
«Sydney hatte schon einen Namen, als wir 15 waren. Aber wir lernten uns erst in der U17-Nati kennen. Da kam sie mal auf mich zu gerannt und schrie: ‹Hey, ich komme zu GC.› Und als sie dann bei GC war, hiess es vom Klub: Ihr werdet WG-Partnerinnen. Seither sind wir beste Kolleginnen.
Von Sommer 2023 bis Sommer 2024 haben wir zusammen in Seebach eine Wohnung geteilt. Ich wollte immer alles sauber halten. Sydney aber sagte: ‹Chill’s mal.› Irgendwann habe ich es vernachlässigt, und plötzlich war sie es, die auf mehr Ordnung pochte. Es war eine super Zeit, auch wenn wir nur eine Zweizimmerwohnung hatten und uns das Schlafzimmer geteilt haben.
Oberhalb und unterhalb unserer Wohnung wohnten andere GC-Spielerinnen. Und es gab schon mal die eine oder andere Reklamation wegen Lärmbelästigung. Wir vergassen halt ab und zu die Zeit. Und wenn wir Fussball oder Rugby in der Wohnung spielten, wurde es nicht nur laut, sondern es gingen auch mal Lampen und anderes in die Brüche.
Wir haben mega viel gelacht. Manchmal auch zusammen gesungen. Sydney kann das richtig gut. Und weil kein Platz für ein Klavier war, brachte sie die Gitarre mit.
Nächtliche Besuche hatten wir kaum, weil wir sehr auf den Fussball fokussiert waren. Gegen Ende unserer gemeinsamen Zeit bei GC kam es zwar vereinzelt vor. Aber immer im vernünftigen Rahmen.
Sydney ist aussergewöhnlich, keine Frage. Als ich sie das erste Mal spielen sah, dachte ich: Die spielt wie ein Typ. Dribbling, Tempo, Technik, Schuss, Dynamik – alles vom Allerfeinsten. Es hat auch richtig Spass gemacht, mit ihr zu trainieren. Wir zogen uns jeweils auf. Die eine sagte zur anderen: ‹Ich fresse dich.› Und dann sind wir aufeinander los.
Die Gefahr, abzuheben, sehe ich bei ihr nicht. Denn sie ist die bodenständigste Fussballerin, die ich kenne. Sie sagte mir mal: ‹Hör zu, egal ob jemand bei Barcelona, GC oder Wädenswil spielt, jeder Mensch hat den gleichen Wert, auch wenn die Qualitäten unterschiedlich sind.› Diese Denkweise wird sie nicht ändern. Ausserdem ist sie seit dem Wechsel nach Barcelona noch offener und sozialer als vorher.
Wir halten immer noch sehr viel Kontakt. Und natürlich habe ich mitgekriegt, dass sie einen schwierigen Start in Barcelona hatte. Ist doch logisch. Neue Sprache, neuer Klub, neue Stadt, neue Kolleginnen: Das braucht Zeit. Ich habe sie versucht zu ermutigen, sich die nötige Zeit zu geben. «Bleib ruhig, du bist eine Top-Persönlichkeit, das kommt schon noch mit dem Wohlfühlen.»
Den ersten Kontakt zwischen Barcelona und Sydney habe ich hautnah mitbekommen. Wir hingen auf dem Sofa rum, jede scrollte durch die sozialen Medien. Plötzlich fragt sie mich: ‹Hey, was ist das? Hat mir Barça geschrieben?› Sie zeigt mir einen Beitrag auf ihrem Instagram-Account. Zeitgleich schreien wir unsere Freude heraus, hüpfen auf dem Sofa und rennen durch die kleine Wohnung. Als wir uns beruhigt haben, fragt sie: ‹Ist das fake?› Ich so: ‹Keine Ahnung.› Dann rief sie ihren Vater an.
Als sie ging, war ich megatraurig. Ich wusste nicht, wie es sein wird, wenn sie weg ist. Gleichzeitig war ich sehr stolz auf sie. Zum Abschied sagte ich ihr: ‹Egal, was passiert, ich werde immer für dich da sein, und wenn etwas ist, kommst du zu mir oder ich fliege runter.› Und obwohl sie nun weg ist, stehen wir uns näher denn je.
Leider habe ich es nicht geschafft, mich in die Nati zu spielen. Aber sie ist schon jetzt, mit erst 18, die beste Spielerin der Schweiz. Wahnsinn. Ich wünsche und ich hoffe, dass wir bald zusammen für die Schweiz auf Torejagd gehen können.»
«Ich bin seit 34 Jahren Juniorentrainer. Aber als ich Sydney vor etwa zehn Jahren beim Probetraining der U9 des FCZ das erste Mal gesehen habe ... Wow. Die Buben dachten, da komme ein Mädchen, das sie fussballerisch durch den Kakao ziehen können. Aber das Gegenteil war der Fall. Wahnsinn. Und das hat den Buben mächtig Eindruck gemacht.
Als wir mit der U9 an ein internationales Bubenturnier nach Österreich fuhren, wo unter anderem auch Bayern München, Köln und Hertha Berlin teilnahmen, wurde sie mit dem Titel «bester Spieler des Turniers» ausgezeichnet. Für uns Trainer war aber vorher schon klar: Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, wird dieses Mädchen eine grosse Karriere machen.
Sydney wollte immer gewinnen, gut spielen und Freude haben. Genau in dieser Reihenfolge. Wenn sie mal verlor, war sie zwar traurig und enttäuscht, aber nie ausfällig oder destruktiv. Nie hat sie im Frust die Fussballschuhe oder anderes rumgeschmissen. Nie musste ich mit ihr schimpfen, weil sie mit schmutzigen Schuhen die Garderobe betreten hat. Und nie hatte sie das Gefühl, sie müsse aufgrund ihres Talents die Dinge auf dem Platz alleine regeln.»