Die Nachspielzeit läuft bereits, als Virgil van Dijk in Nottingham am Fünfmeterraum völlig unbedrängt zum Kopfball kommt und diesen aufs Tor bringt. Doch Forest-Goalie Dean Henderson zeigt eine Parade, die den Kommentator vom Klubradio an die englische Keeper-Legende Gordon Banks erinnert. Wenig später scheitert auch Mohamed Salah nach einem Corner mit dem Kopf. Liverpool kann die Niederlage nicht mehr verhindern.
Nach der 0:1-Niederlage beklagte sich Trainer Jürgen Klopp über die mangelnde Chancenverwertung. «Ich kann mir das Resultat nicht erklären. Wir hatten vier oder fünf Möglichkeiten, bei denen wir hätten treffen müssen», sagte er nach dem Spiel zu BT Sport. Sowohl van Dijk als auch Roberto Firmino hätten Chancen gehabt, die sie hätten verwandeln müssen. Dabei war der Sieg für Nottingham Forest nicht ganz so unverdient, wie es der 55-jährige Deutsche darstellt, wenn er sagt: «Wir hätten hier gewinnen müssen. Es war mehr ‹wir gegen den Torhüter oder gegen uns selbst›, als ‹wir gegen Nottingham›.»
Denn die Gastgeber hatten sich einige Chancen erspielt und entschieden die Statistik der erwartbaren Tore (xG) je nach Quelle für sich oder unterlagen dort nur knapp. Trotzdem hätte Liverpool demnach mindestens ein Tor erzielen müssen.
Die mangelnde Chancenverwertung zieht sich bereits durch die gesamte Saison der «Reds». Nur beim 9:0 gegen Bournemouth und beim 3:3 gegen Brighton erzielte Liverpool in der Premier League deutlich mehr Tore, als dies laut dem xG-Wert zu erwarten gewesen wäre. Ansonsten blieben sie laut fbref.com fünf Tore unter dem erwartbaren Wert.
Ein deutlicher Unterschied zu den letzten Jahren und vor allem zur Meistersaison 2019/20, wo Liverpool den xG-Wert gleich um 14 Treffer überbot. Ein Grund dafür ist Mohamed Salah, der seiner Bestform in dieser Saison noch hinterherläuft. Der Ägypter, der in den vergangenen Jahren gefühlt auch aus ausweglosen Situation ein Tor machen konnte, fällt diese Saison häufig auch durch vergebene Chancen auf.
Ein Beispiel dafür ist eine Situation im Spiel gegen Manchester City vom vorletzten Wochenende. Dabei scheiterte er alleine vor Ederson am brasilianischen Goalie, wo er vergangene Saison noch getroffen oder den besser postierten Mitspieler gesehen hätte.
Dabei hatte Salah Glück, dass er später in einer ähnlichen Situation doch noch traf, ansonsten hätte er wohl bereits dort Schelte von Trainer Klopp bekommen. Doch James Pearce, der Liverpool bereits seit über zehn Jahren nahe verfolgt, will die vergebenen Chancen nach Standardsituationen nicht als Ausrede für die Leistung gegen Nottingham gelten lassen. Er schreibt bei «The Athletic»: «Es lag an so viel mehr als ein paar verfehlten Kopfbällen, dass eine lethargische, von Fehlern geprägte Vorstellung in einer verdienten Niederlage gegen ein seit August siegloses Nottingham Forest endete.»
Der Fakt, dass Liverpool trotz 75 Prozent Ballbesitz so abhängig von den Standards gewesen ist, spricht Bände. Es fällt dem Team schwerer als auch schon, sich Chancen zu erarbeiten. Da könnte auch der Weggang von Sadio Mané seine Auswirkungen haben. Der Neu-Bayer war nach Salah regelmässig für die meisten Torbeteiligungen bei Liverpool verantwortlich. Einen echten Ersatz hat der Klub von der Merseyside nicht verpflichtet. Darwin Nuñez ist ein klarer Mittelstürmer, während der Senegalese viel variabler einsetzbar war.
Die beiden Linksaussen im Kader sind verletzt. Und voraussichtlich werden weder Luis Diaz noch Diogo Jota vor Jahresende zurückkehren. Auch darüber klagt Klopp immer wieder. Und tatsächlich hat Liverpool häufig Verletzungspech. Am Samstag beim Spiel gegen Nottingham fielen Nuñez und Thiago kurzfristig aus. Pearce macht dafür aber auch eine fehlerhafte Kaderplanung verantwortlich. Es sei unsinnig, «sich so sehr auf jemanden zu verlassen, der so viel Spiele verpasst wie Thiago».
Im Sommer holte Liverpool, statt für die Breite zu sorgen, Nuñez für 80 Millionen Euro exklusive künftiger Bonuszahlungen und zwei junge Spieler. Gleichzeitig liess man mehrere Spieler gehen und holte dann kurz vor Ende der Transferphase leihweise den Brasilianer Arthur, der aber ebenfalls mit einer Verletzung lange ausfällt.
So muss Klopp in seiner Aufstellung zwangsweise häufig rotieren und hat in Wochen wie der letzten, wo innert sieben Tagen drei Spiele anstehen, nur wenige verlässliche und ausgeruhte Spieler. Auch deshalb steht der Champions-League-Finalist der letzten Saison nach elf Spielen mit nur 16 Punkten auf Platz 8 in der Premier League.
Nicht wenige erinnern sich nun an die siebte Saison von Klopp bei Dortmund oder auch bei Mainz. In beiden Fällen tat er sich schwer: mit Mainz stieg er ab, mit Dortmund stand er zwischenzeitlich auf dem letzten Platz der Bundesliga. Am Ende beider Saisons verliess er den Klub. Klopp hält nichts von diesem 7-Jahre-Zyklus. Er sagt, die Situationen könne man nicht vergleichen. Liverpool-Legende Graeme Souness bezeichnet die Theorie als absoluten Blödsinn.
Und dennoch sind Parallelen erkennbar. Liverpool ist so schlecht wie nie, seit Klopp im Oktober 2015 an die Anfield Road kam. Sollte das Team nicht bald die Kurve kriegen, könnten kritische Stimmen lauter werden. Klopp hat in Liverpool aufgrund seiner Erfolge – der Gewinn des ersten Meistertitels seit 1989/90 und der Champions League 2018/19 – viel Kredit bei Klub und Fans. Doch die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt, dass der Kredit von jedem Trainer irgendwann verspielt ist.