Mai 2008: Olympique Lyon wird französischer Meister – zum siebten Mal in Serie. Der traditionsreiche Klub aus der Grossstadt an der Rhone ist in den Nullerjahren im französischen Fussball – ähnlich wie Paris Saint-Germain heute – das Mass aller Dinge.
August 2020: Nach einem Sieg im Champions-League-Viertelfinal über Manchester City trifft Lyon in Lissabon im Halbfinal auf den deutschen Serienmeister Bayern München. Lyon mag in dieser Partie, welche die Münchner am Schluss mit 3:0 für sich entschieden, zwar Aussenseiter sein, auf der europäischen Bühne sind die Franzosen aber Dauergast – zwischen 2000 und 2020 spielte Lyon 17 Mal in der Champions League und schaffte es zwei Mal bis in den Halbfinal.
November 2023: Nach 13 Partien liegt Olympique Lyon in der Ligue 1 mit sieben Punkten und nur einem Sieg auf dem letzten Platz. In der aktuellen Saison kämpft die einstige Lokomotive der französischen Liga nicht etwa um den Einzug in die Königsklasse, sondern um den Abstieg in die Bedeutungslosigkeit zweite Liga.
Es sind harte Zeiten, die der stolze Klub aus dem Südosten Frankreichs durchlebt. Gründe für den tiefen Fall des einstigen Erfolgsklubs gibt es einige – eine Übersicht.
Betrachtet man das Spiel von Lyon, wird deutlich: Das, was die Mannschaft momentan auf dem Platz bringt, ist nicht erstligatauglich. Weder in der Defensive, wo die Gegenspieler oftmals unbedrängt zum Flanken kommen, noch in der Offensive, in der selten Torgefahr kreiert wird, ist eine Spielidee erkennbar.
Das Kader von Lyon – es ist immerhin das acht-wertvollste der Liga – braucht frischen Wind. Bradley Barcola und Castello Lukeba, zwei grosse Talente, haben den Verein in Richtung Paris bzw. Leipzig verlassen, nennenswerte Zuzüge gab es auf die laufende Saison hin keine.
Nach einem der schlechtesten Saisonstarts der Vereinsgeschichte mussten sich die Spieler im vergangenen September der Kritik der Fans in der «Virage Nord» stellen.
Schuldige für die sportliche Misere wurden in Lyon schon viele gefunden. Der 2022 aus Arsenal zurückgekehrte Kaptain Alexandre Lacazette, der in der letzten Saison 27 Tore für die «Gones» erzielt hatte, traf in der laufenden Saison lediglich drei Mal. Auch Corentin Tolisso, der ebenfalls 2022 aus München zu seinem Jugendklub zurückgekehrt war, vermag seine Rolle als Führungsspieler nicht recht auszufüllen.
In der letzten Saison, in welcher der Klub nach einem miserablen Start am Schluss noch den siebten Tabellenrang erreichte, trieb die Suche nach einem Sündenbock bisweilen eigenartige Blüten: So wurde dem talentierten Eigengewächs Rayan Cherki – einer der wenigen Lichtblicke am düsteren Lyon-Himmel – vorgeworfen, mit seiner eigennützigen Spielweise und seinen zaghaften Abschlüssen einen grossen Anteil an der Baisse seines Teams zu haben. Dass hinter einer langanhaltenden sportlichen Misere eines ganzen Vereins mehr steckt als die Leistung eines einzelnen Spielers, der zudem gerade mal 20 Jahre alt ist, liegt auf der Hand.
Auch die Trainerposition bereitet in Lyon Sorgen. Seit 2021 geben sich die Männer an der Seitenlinie die Klinke in die Hand. Auf Peter Bosz folgten Laurent Blanc und zuletzt Fabio Grosso. Letzterer wurde Ende November nach nur sieben Spielen wieder entlassen.
Dabei hätten Blanc und Grosso auf dem Papier vieles mitgebracht, was einen Erfolgstrainer ausmacht: Blanc gewann mit Frankreich den WM-Titel 1998 – im Achtelfinal gegen Paraguay schoss er das Golden Goal – und holte in seinen drei Jahren als Trainer von Paris Saint-Germain elf (!) Titel. Auch der Italiener Grosso führte sein Land mit einem entscheidenden Tor im Final gegen Frankreich zum Weltmeistertitel. Nachdem er als Trainer in Sion entlassen wurde, schaffte Grosso mit Frosinone Calcio den Aufstieg in die Serie A.
Bescheidenen Transfers zum Trotz – gemessen am Talent und der Erfahrung, die im Kader der «Gones» zusammenkommen, dürfte Lyon eigentlich nicht am Tabellenende herumdümpeln. Um die Misere des französischen Klubs zu ergründen, reicht es aber nicht, an der sportlichen Oberfläche zu kratzen, denn die Krise an der Rhone ist auch finanzieller Natur.
Seit 2022 gehört der 1950 gegründete Verein Olympique Lyon zu zwei Dritteln der «Eagle Football Holding» des US-Amerikanders John Textor, der auch Mitbesitzer des englischen Premier-League-Vereins Crystal Palace ist. Seither kommt es in Lyon immer wieder zu öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten zwischen Textor und dem ehemaligen Besitzer und Präsidenten Jean-Michel Aulas, der noch immer als «Ehrenvorsitzender» amtiert. Seit 1987 war Lyon, das damals noch in der zweiten französischen Liga spielte, in den Händen des für seine Wutausbrüche bekannten Patriarchen, erlebte sportliche Höhenflüge und den finanziellen Niedergang.
Heute steht Lyon gar unter Aufsicht der französische Finanzbehörde DNCG, Ausgaben für Gehälter und Transfers werden genaustens überprüft. Textor wirft Aulas vor, ihn vor dem Verkauf nicht ausführlich über die prekäre finanzielle Situation des Vereins ins Bild gesetzt zu haben. Aulas reagierte auf die Anschuldigungen mit einer Verleumdungsklage gegen Textor.
Auch andere Episoden zeigen, dass die Situation in Lyon angespannt ist – so soll beispielsweise der ehemalige Bayern- und Lyon-Spieler Jérome Boateng, der aktuell ohne Verein dasteht, mit seinen Mitspielern aneinandergeraten sein. Und Ex-Trainer Grosso hat kurzerhand ein Training abgesagt, nachdem von den Spielern anonym Kritik an seinem Führungsstil geäussert wurde.
🚨🚨 Fabio Grosso a réuni ses joueurs pour trouver 𝗾𝘂𝗶 𝗲𝘀𝘁 𝗹𝗮 𝘁𝗮𝘂𝗽𝗲 après les déclarations de Jérôme Rothen hier.
— Actu Foot (@ActuFoot_) October 24, 2023
Il a ensuite 𝗔𝗡𝗡𝗨𝗟𝗘́ l’entraînement du jour.
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𝙍𝙖𝙥𝙥𝙚𝙡 𝙙𝙚 𝙡𝙖 𝙙𝙚́𝙘𝙡𝙖𝙧𝙖𝙩𝙞𝙤𝙣 𝙙𝙚 𝙍𝙤𝙩𝙝𝙚𝙣 :
« J’ai essayé… pic.twitter.com/9AemXei3qA
Medienberichten zufolge sollen Aulas und Textor das Kriegsbeil mittlerweile wieder begraben haben. Ob mit dem Frieden in der Führungsetage auch der sportliche Erfolg zurückkommt, wird sich zeigen.