Die Erleichterung ist Géraldine Reuteler ins Gesicht geschrieben, sie schreit ihre Freude heraus. Soeben hat sie im zweiten EM-Spiel gegen Island das Führungstor für die Schweizerinnen erzielt. Noch im Startspiel hatte sie viele Topchancen vergeben, kritisierte sich danach selbst. «Den muss ich einfach machen», sagte sie zu ihrer Topchance in den Schlussminuten. Am Sonntagabend gelingt das. In der 76. Minute erhält sie von Sydney Schertenleib den Ball in den Lauf – und schiebt ihn souverän ins Tor. Die 26-jährige Nidwaldnerin führt die Schweiz mit ihrem Führungstreffer zum so wichtigen 2:0-Erfolg gegen Island.
Wer sich im Schweizer Frauenfussball auskennt, den überrascht es nicht, dass Géraldine Reuteler eine tragende Rolle einnimmt im Nationalteam. Ihr Talent ist unbestritten riesig, ihre Auftritte seit Jahren auffällig. Ob im Mittelfeld oder im Sturm – sie gehört stets zu den Aktivposten. Doch in der Öffentlichkeit steht Reuteler im Schatten anderer. Von Lia Wälti, die das Tempo des Teams bestimmt. Von Sydney Schertenleib, dem Wunderkind in der Offensive. Von Alisha Lehmann mit ihren vielen Followern. Aber Géraldine Reuteler ist es, die in beiden Schweizer EM-Spielen von der Uefa als Spielerin des Spiels ausgezeichnet wurde.
Mit ihren auffälligen Auftritten am Heimturnier löst Géraldine Reuteler ein altes Versprechen ein. Schon früh ist klar, dass die Nidwaldnerin eine besondere Begabung hat. Mit 7 Jahren tritt sie dem FC Stans bei, mit 12 ist sie bei einem Bubenturnier die Beste auf dem Platz, mit 15 debütiert sie in der Nationalliga A für die Frauen des FC Luzern. Dort ist sie rasch die beste Spielerin, erzielt in 43 Ligaspielen 28 Tore. Mit 17 debütiert sie für das Schweizer Nationalteam und wechselt im Sommer 2018 nach Frankfurt.
In der Bundesliga ist sie mittlerweile zur fleissigen Skorerin aufgestiegen. In der abgelaufenen Spielzeit erzielt sie in 25 Pflichtspielen für die Eintracht zwölf Tore und bereitet sieben weitere Tore vor. «Als ich sie das erste Mal gesehen habe, war mir klar, dass sie eine sehr grosse Karriere hinlegen wird. Sie ist einfach eine komplette Fussballerin», adelt sie Nati-Captain Lia Wälti. Auch deshalb ist sie im Mittelfeld und im Sturm einsetzbar. Im EM-Startspiel war sie ganz vorne, im zweiten Spiel gegen Island rückte sie ins zentrale Mittelfeld.
Doch eigentlich hätte alles anders kommen sollen. Als Géraldine Reuteler 7 Jahre alt ist, schickt ihre Mutter sie ins Ballett. «Das hat mir aber gar nicht gefallen», sagt sie. «Viel lieber habe ich im Garten Fussball gespielt.» Wie ihr um zwei Jahre älterer Bruder Julien tritt sie dem FC Stans bei. Dort spielt sie in einem Team von Jungs – und fällt auf. Später kommt sie für drei Jahre zunächst ins nationale Leistungszentrum in Huttwil, das in der Folge nach Biel verlegt wird.
Doch das Supertalent hat Stolpersteine zu überwinden. Als Géraldine von den Buben des FC Stans in die U15 des FC Luzern wechselt, tut sie sich als einziges Mädchen in einem Bubenteam schwer. Es ist anders als mit ihren Freunden seit Kindheitstagen, der Umgangston ist rauer. Ähnlich ergeht es ihr in Huttwil, sie vermisst das Zuhause. Und selbst als sie 2018 nach Frankfurt in die deutsche Bundesliga wechselt, hat sie zunächst grosses Heimweh. Sie vermisst ihre Heimat, die Familie, ihre Liebsten. Erst als ihre damalige Freundin nach Frankfurt zügelt, wird es besser. Obwohl sie sich in Frankfurt mittlerweile beinahe heimisch fühlt, sagte sie noch vor einer Weile, dass sie am liebsten in der Schweiz Fussball spielen würde. Wenn es denn eine professionelle Liga gäbe.
Die Heimat, sie bleibt Géraldine Reuteler wichtig. Trotz Profikarriere bei einem deutschen Spitzenklub. Als die Schweiz kurz nach dem Erhalt der Heim-EM im April 2023 ein Testspiel in Luzern gegen China bestreitet, schwärmt sie. «Hier in diesem wunderschönen Stadion zu spielen, war sehr, sehr, sehr schön! Ich hoffe, wir spielen an der EM wieder hier.» Dieser Traum geht für Reuteler nicht in Erfüllung, die Schweizerinnen spielen am Heimturnier selbstredend in grösseren Spielstätten. Dennoch ist Reutelers Familie auch an den anderen Spielorten immer mit dabei. Schon an den letzten grossen Turnieren sind die Liebsten immer mittendrin, auch nach Neuseeland reisen ihre Eltern und ihre beiden jüngeren Brüder mit.
Die Familienliebe geht bei den Reutelers unter die Haut. Mit 16 möchte Géraldine ihr erstes Tattoo. «Mein Mami musste dafür noch unterschreiben, aber sie konnte nicht Nein sagen, weil es ein Familientattoo war», sagt Reuteler lachend. Heute zieren 22 Tattoos ihren Körper, es kommen immer wieder weitere dazu. Am rechten Arm hat sie das Geburtsdatum ihrer jüngeren Zwillingsbrüder tätowiert, links das ihres besten Freundes. Am Knöchel trägt sie dasselbe Symbol wie ihre Mutter, auch den Vater und die beiden älteren Brüder hat sie auf ihrer Haut verewigt. «Mein Mami sagt, ich sei zugekleistert. Aber ich finde, es sind gar nicht so viele Tattoos.»
Die Familie ist auch dann da für Géraldine Reuteler, als es ihr weniger gut geht. Es ist der 29. März 2021. Während eines Montagstrainings mit Eintracht Frankfurt reisst sie sich das vordere Kreuzband und das Aussenband wird beschädigt. Was folgt, ist ein langer Weg zurück. Über 400 Tage fehlt Géraldine Reuteler im Nationalteam. Die Familie lernt die Schattenseiten des Fussballs kennen. «Wenn du verletzt bist, dann interessiert sich kein Schwein mehr für dich», beklagte sich Mutter Evelyne im «Blick».
Für Reuteler ist die Verletzung ein Reifeprozess. Nach der Rückkehr, das ist wenige Monate vor der Europameisterschaft 2022 in England, sagt sie in einem Gespräch, sie sei offener und selbstbewusster geworden. «Ich habe mich selber weiterentwickelt.» An der EM schiesst sie einen Treffer gegen die Niederlande, zählt beim Turnier zu den Besten. Ein Jahr später an der WM in Neuseeland wird sie noch wichtiger.
Doch erst jetzt, mit 26 Jahren, ist Reuteler so wichtig für die Schweiz, wie es ihre Fähigkeiten immer vermuten liessen. Sie ist nicht mehr eines der Toptalente, sondern übernimmt Verantwortung. «Wenn wir Alt gegen Jung spielen, bin ich zwar noch knapp bei den Jungen. Aber jung fühle ich mich in diesem Team nicht mehr», stellt sie fest. Aus dem grossen Talent ist eine Spielerin geworden, die das Nationalteam mit ihren Auftritten anführt. Nicht unbedingt mit grossen Worten, dafür umso mehr mit grossartiger Leistung. (riz/aargauerzeitung.ch)