Es war zu Beginn dieses EM-Sommers in Stuttgart, als Gregor Kobel spürte, wie man Herzen höherschlagen lässt. Nach dem einzigen öffentlichen Training der Nati im Stadion an der Waldau blieb er allein auf weiter Flur, um die Autogrammwünsche der jungen Zaungäste zu erfüllen. Vielleicht mochte sich Kobel in der Stadt, in der er mit dem ortsansässigen VfB im Juni 2020 aufgestiegen und sein Stern so richtig aufgegangen war, einfach von der lieben Seite zeigen. In jedem Fall steht die Aktion symbolhaft dafür, was für repräsentative Aufgaben künftig folgen mögen. Für ihn, der wie ein Maikäfer gestrahlt hat, als Trainer Murat Yakin irgendwann nach dem Turnier mitteilte: «Du bist jetzt meine neue Nummer 1.»
Nun sitzt Kobel also neben Yakin da im Konferenzraum des Parken-Stadions, in welchem die Nati am Donnerstag die erste Begegnung der Nations League gegen Dänemark (Anpfiff 20.45 Uhr) absolviert. Er ist etwas angespannt und sagt: «In der Schweiz ist die Nati das grösste Ziel im Fussball. Das ist ein Traum, den ich als kleiner Junge bereits hatte und sehr lange verfolgt habe. Natürlich freute mich die Nachricht extrem, nun die Nummer 1 zu sein.»
Es war seit einer gefühlten Ewigkeit das gewohnte Bild: Yann Sommer hütet das Schweizer Tor. Der Posterboy mit Saubermann-Image versuchte den Kasten der Nati zehn Jahre lang sauber zu halten, häufig gelang ihm das gut, manchmal sehr gut. Wohl nagte der Zahn der Zeit nicht an seinem Konterfei unzähliger Werbeplakate, sportlich fragte man sich aber bereits vor der EM: Wie lange noch? Oft, wenn ein Zyklus mit einem Grossanlass zu Ende geht und ein neuer beginnt, können sich Bilder dann verändern. Und Sommer, den man intern bereits hinter Kobel sah, zog sich zurück. Wie das im zeitlichen Ablauf aber genau im Detail abgelaufen ist, bleibt nebulös.
Yakin sagt: «Gregor hat lange gewartet auf diesen Moment. Ich freue mich für ihn, dass er endlich als Nummer 1 antreten kann.» Für die Nati muss dieser Wechsel kein Nachteil sein. Nicht, wenn der Nachfolger eben Gregor Kobel heisst, 26 Jahre alt ist (9 Jahre jünger als Sommer) und bei Dortmund in einem europäischen Eliteklub spielt. Auch entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass «France Football» soeben die zehn nominierten Goalies für die Jaschin-Trophäe bekannt gegeben hat; beide, Sommer wie Kobel, sind vertreten. Der neue Titular sagt: «Es ist immer schön, wenn man Anerkennung erhält, in welcher Form auch immer.»
Kobel ist im Zürcher Seefeld aufgewachsen, er trägt Selbstbewusstsein und Selbstverständnis eines Limmatstädters in sich und manchmal auch nach aussen. Längst ist er eine grosse Nummer im Weltfussball, zählt zu den fünf, sechs Besten seines Fachs. Und gilt als aggressiver, mutiger Goalie, der seine Vorderleute lautstark dirigiert. Der «Kicker» sah ihn im Halbjahresturnus jüngst zum vierten Mal in Folge als besten Torhüter der Bundesliga.
Mit solchen Zuschreibungen fällt das Warten schwerer, seinem Berater Philipp Degen erging das ja auch so. Das Warten darauf, endlich in der Nati dort zu sein, wo man sich kraft der Fähigkeiten sieht. Wobei die lobpreisenden Meinungen der Experten diese Sehnsucht nur noch potenzierten. Fünf Länderspiele sind es bis dato bloss geworden, darunter ein wichtiges: In Katar 2022 das 3:2 gegen Serbien im dritten WM-Gruppenspiel; Sommer fehlte krankheitsbedingt. Kobel sagt: «Am Ende des Tages wollen Profisportler immer spielen. Ich versuchte, mich stets in den Dienst der Mannschaft zu stellen.»
Mit 16 Jahren brach der ehrgeizige Kobel das Gymnasium ab, liess das familiäre Umfeld und den Jugendklub GC zurück. Er folgte dem Ruf Hoffenheims, der über eine Anfrage an den Schweizer Verband und die Empfehlung Patrick Folettis laut geworden war. Wobei das Verhältnis mit Foletti damals bei GC nicht ganz konfliktfrei war. Längst ist dieser in der Nati der Goalietrainer - für Kobel bis heute kein Problem, wie er sagt. «Wir haben ein klares, professionelles und gutes Verhältnis.»
Die Türe in die Bundesligamannschaft der Hoffenheimer stand zu wenig weit offen, dafür wurde die Leihe zum Abstiegskandidaten Augsburg möglich. Ehe der VfB kam und Kobel im Sommer 2021 für 15 Millionen Euro an Dortmund verkaufte. Spätestens jetzt begann das Scharren an Sommers Position. Es blieb dabei und dauerte nun so lange, weil Sommer ein Topgoalie ist. Auch war Kobel nicht immer fit in der Nati, zudem stehen sich Sommer und Foletti sehr nahe. Was wiederum nicht nur Kobel störte. Derweil gibt Berater Degen aus der Ferne diesen kurzen Satz als Zitat frei: «Keine Stellungnahme zum ganzen Thema.»
Nun tritt Kobel also in die grossen Fussstapfen, jene Sommers bedeuten 94 Länderspiele und das langjährige Gesicht der Nati. Im Mannschaftsrat ist Kobel bereits, auch Breel Embolo ist neu dabei neben den bisherigen Granit Xhaka, Remo Freuler, Denis Zakaria und Manuel Akanji.
So oder so steht Kobel, das meinungsstarke, im Klub so konstant leistungsstarke Samichlauskind mit Geburtstag am 6. Dezember fortan im Rampenlicht. Und unter ungleich grösserem Druck. Es mag für die Schweizer in der Nations League ein eher unbedeutendes Länderspiel in Dänemark sein. Nicht für den Goalie - er wird nervöser sein als sonst.